GUSTAV DEUTSCH

Bibliografie thematisch

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GUSTAV DEUTSCH

Bibliografie thematisch

Markus Wailand

Aus dem ewigen Buch der Alltagslegenden: Irgend jemand geht in Hamburg in einen Beate-Uhse-Shop, um dort, wie wir alle dann und wann, für einen Freund was zu besorgen oder die ästhetische Qualität des Ambientes auszukosten - egal. Tatsache ist, daß besagter Person bei diesem Besuch ein kleiner Plastikapparat in die Hände fällt: ein Filmbetrachter für Super-8-Filmstreifen, Laufbildformat unserer Heimkinosozialisation in der Prä-Video-Ära. Wenig später sollte dieses grüne Stück Kunststoff dem Künstler Gustav Deutsch geschenkt werden.

Der Movie-Viewer, made in Hongkong, zeigte auf einer Endlosschleife nacheinander vier nackte Frauen, die sich rhythmisch porno-ekstatisch auf- und niederbewegen. Unter ihnen jeweils der Kameramann, ergo in weiterer Folge der Betrachter, beide mindestens mit einem Finger am Auslöser, soviel ist sicher. Weitere Subjekt/Objekt- und blicktheoretische Anmerkungen zu dieser Konstellation sind zwar aufgelegt, werden aber an dieser Stelle nicht abgestaubt, weil es ganz anders kommen sollte.

Zuerst spürt Gustav Deutsch der Produktionsfirma von Hamburg über Hongkong bis China nach, bekommt vom Inhaber der Weltrechte in Birmingham die Erlaubnis, 200 solcher Apparate zu importieren, und hat damit die Grundausstattung für eine kinosaalfüllende Veranstaltung. Er ersetzt den Originalfilmstreifen durch Selbstgedrehtes und entwickelt die Idee seiner Taschenkino-Traumvorstellung: Jede Menge Leute sind in einem Kinosaal, und alle sehen etwas anderes. Hundert Filmschleifen für hundert Besucher ergeben eine Stunde Kino, gerade recht zum runden Jubiläum des Laufbildes - daß sich hundertjahrekino, das bm:wfk-Projekt zum Kinogeburtstag, mit der hundertprozentigen Finanzierung beim Taschenkino einklinkte, setzt dieses Zahlenspielchen harmonisch fort.

Die kleinen Schnurrmaschinen mit Batteriemotor werden am Anfang der Vorstellung an die Kinobesucher ausgegeben, denen jeweils eine halbe Minute Zeit bleibt, sich ihren Streifen anzusehen. In den nächsten neun Sekunden werden die tollkühnen Kisten im fliegenden Wechsel weitergegeben, ein Metronom vom Band gibt den Takt an, nächster Film, neue Übung. Reinschauen geht weiters nur mit einem Auge, das andere muß geschlossen werden. Weil dies über die Dauer der Vorführung zu unangenehmen Lidverkrampfungen führen kann, sind schwarze Augenklappen vorgesehen. In einer weiteren Spielvariante können die Besucher mit ihren Minikinos zum Beispiel in Mödling herumspazieren, auf der Straße und im Café Bilder schauen und untereinander Schachteln schachern - nach eineinhalb Stunden ist die Vorstellung zu Ende, und die Kinos werden wieder abgegeben.

Zum Zeitpunkt, an dem der Finger den schwarzen Knopf niederdrückt und die Filmschleife in Gang setzt, ist die Welt unüblich gut, wunderbar, weil kurios und irgendwie schrullig, aber nicht geistlos. Der erste Film. Der zweite, dritte, vierte. Fünf, sechzehn, siebenundsiebzig, da waren sie wieder: die Gewohnheit, die Wiederholung, das Alltäglich-Eingeübte. Das Taschenkino hat keine Handlung. Es ist ein Kino vor der Zeit, wo Geschichten erzählt wurden. Die Sensation, bewegte Bilder konservieren zu können und jederzeit verfügbar zu haben, möchte das Taschenkino nachempfinden und dabei Grundsätzliches abhandeln: „Ein Versuch über die endlose Wiederholung im Leben und im Film" erklärt der Untertitel zum Projekt. Deutsch traut der Endlosschleife nicht zu, schon alles über Wiederholung gesagt zu haben, sodaß er sie in Bildern illustriert. Sie strukturieren sich in zehn mal zehn Bereiche wie „Lebensrhythmus", „Bewegungen" oder „Rituelle Handlungen", untergruppiert in „Zähneputzen", „Kämmen", „Schneuzen" et cetera. Und das sieht man dann: dreißig Sekunden drehende Daumen, schüttelnde Hände, Menschen, die sich niedersetzen. Selten haben die Bilder Überraschungen oder Brüche, Witz oder Wunder auf Lager wie bei dem Sujet mit der Waschmaschine oder jenen, wo Tiere die Stars sind. Die Vorlage - als Remake mit Nummer 10/10 im Programm - bleibt demnach unerreicht.

Es sei ihm nicht um Gags gegangen, so ein ernster Gustav Deutsch, sondern um Elementares, kleinste Einheiten des bewegten Lebens. Und cineastische Molekularbiologie ist eben nicht spannender als andere Kunst. Vor allem mit der Künstlergruppe „Der blaue Kompressor" machte Deutsch die verschiedensten Projekte - „Die Kunst der Reise" lautete der Titel des letzten, die Kompressor-eigene Publikationsreihe „Materialien zur Gesamtkultur" umfaßt mittlerweile über 100 Ausgaben und wird im Literaturhaus archiviert. Mit dem Architekten Ernst Kopper realisierte er erste Videofilme, damals schwarzweiß, viele sollten folgen - Biennale-Besucher haben zuletzt einen guten Deutsch als Jingle vorgesetzt bekommen.

Da sitzt er nun im Filmhaus-Kino mit einem Koffer voll Filmspieldosen und leistet sich den Luxus, keine weiteren Pläne mit diesen Dingern zu haben. Keine Gags in Super 8, auch keine Marketingintentionen für das Laufbild-Gimmick. Und den ewigen Cadavre-exquis-Film nach dem Vorbild des niemals abgeschlossenen Romans, wo 100 Leute zur gleichen Zeit am gleichen Ort mit demselben Material 100 verschiedene Geschichten erzählt bekommen, den muß noch jemand anders drehen. Bis dahin tut`s die Erde um ihre Achse, und der Lauf der Dinge wird vorhersehbar bleiben, auch wenn das vorübergehend täuschen mag.