Regina Guimarães, Porto
Die Aussage, das Kino sei zum Gedächtnis des 20. Jahrhunderts geworden, ist fast schon ein Gemeinplatz. Das Bewusstsein dafür dürfte schon früh enstanden sein, wenn man nach dem Bemühen der Pioniere des Filmschaffens um Kameramänner urteilt, deren Metier darin bestand, bewegte Ansichtskarten von allen Ecken und Enden der Welt zu sammeln. Dennoch wäre der Versuch angebracht, den Stoff zu bestimmen, aus dem dieses Gedächtnis gewebt ist - und einzuräumen, dass es sich dabei möglicherweise um den Stoff handelt, "aus dem die Träume sind". Hätte Baudelaire nicht zu seiner genialen Feder, sondern zur Filmkamera gegriffen, so wäre jene Passantin, deren schwer zu deutenden Blick er in einem Sonnett festhielt, in diesem Moment eine für alle Zeit Vorübergehende auf immer derselben lärmigen Straße, würde sich ewig annähern und entziehen, ginge in genau jenem Bruchteil der Zeit vorbei, den das Bild in Bewegung eingefangen hätte. Indem es diese unter anderem beweglich machte, ist es damit möglich, Subjektivitäten zu objektivieren.
Die Arbeit von Gustav Deutsch erstaunt, weil sie dem Ruf der Bilder selbst zu folgen scheint - so wie Baudelaire überzeugt war, er hätte mit jener schönen Passantin unauslebbare Liebeswonnen teilen können. Das sinnliche "Iss mich" und "Trink mich" auf dem Grunde des Brunnens bei Alice - den wir auch ohne besondere metaphorische Begabung mit "Objektiv" übersetzen können, da der Reverend auch fotografierte - hieße in diesem Fall "Berühr mich".
So wie Storck oder Resnais sich innerhalb von Werken der bildenden Kunst bewegen, verschafft sich Gustav Deutsch buchstäblich Eingang in und Durchgang durch kinematographische Bilder; er folgt damit einem Impuls, der zugleich voyeuristisch und archäologisch ist, und agiert damit als Weltschöpfer, der Menschen wieder zum Leben erweckt und ihnen ein neues Leben gewährt - ein zwar durch andere gelebtes, das aber nichtsdestoweniger die Möglichkeit bietet, wieder gelebt zu werden. Das führt uns klarerweise, vielleicht in einem Gedankensprung, zur für die Definition des Kinos - gleich welchen Genres - wesentlichen Problematik der virtuellen und/oder fantamatischen Existenzen und erinnert uns unweigerlich an den bewegenden Roman "Morels Erfindung" von Bioy Casarès, in dem die Eroberung der Ewigkeit mithilfe der Techniken von Aufzeichnung und Wiedergabe unmittelbar bevorsteht.
Das Triptychon Wien - Surabaya - São Mamede überrascht uns zunächst durch die Genauigkeit, mit der sein Schöpfer die überaus poetische - im besten Sinne surrealistische - Aufgabe übernimmt, in der Menge Gesichter und Körper zu suchen, um sie zur sinnlichen und geistigen Energie anderer Gesichter und Körper in Bezug zu setzen, die ihnen in manchem gleichen, manchmal nur unwesentlich. Der Filmschaffende erlaubt sich, Flaneur durch entfernte Epochen und Orte zu sein und bedient sich des Kinos als Zeitmaschine. Herausgeholt aus der Anonymität der städtischen Masse und aus ihrer Einsamkeit (Merkmale, die vom Dandy geschätzt werden, sofern nur ein armer Teufel oder irgendein Niemand für seine beträchtliche Rechnung aufkommt), erlangen die Personen, deren Treiben eine Kamera einst filmte, in kurzen Momenten den Status von Filmfiguren. Andererseits werden diese Personen immer in einem Naheverhältnis zu einem Kinosaal herausgegriffen, und der Regisseur stellt Ausschnitte aus den dort angkündigten Filmen - DIE SCHWARZE KAPPE (Wien), SIEGFRIED (Surabaya) und O ZÉ DO TELHADO (São Mamede) - und Szenen mit aus der Menge herausgegriffenen PassantInnen nebeneinander.
Eine Arbeit wie jene von Gustav Deutsch zeigt ganz klar die Nützlichkeit des Verweises - der Verweis macht nur Sinn in dem Maß, in dem er mit anderen Verweisen in einen Dialog tritt, um den Umfang seiner Lektüre zu erweitern.
Das Projekt dieses Filmschaffenden ist essenziell transnational - und knüpft somit vielleicht an den universellen Anspruch des Kinos der Stummfilmzeit an; aber ich muss gestehen, dass es mir ausgesprochenes Vergnügen bereitet hat, die Genauigkeit seiner Herangehensweise bei der die in São Mamede angesiedelten Episode des Films festzustellen: die Pertinenz des Netzes von Bezügen zwischen der Bildmatrix - einer Straße mit einem Kino in einer Art Vorort mit noch ausgeprägt ländlichem Charakter - und den Bildern, die in einer mise en abîme aus ihr hervorgehen. Der dabei verwendete alte Fado mit dem beunruhigendem Text "Sag nicht nein, sag ja, ... auch wenn du lügst" versetzt uns mit einem Schlag in die ersten Jahre der Repression durch den so genannten "Estado Novo"[1]. ("Neuer Staat", die Diktatur des Salazar-Regimes in Portugal, Anm. d. Ü.). Deutsch hat ein Gespür für so unterschiedliche Phänomene wie die Lächerlichkeit der Zeremonien unter dem Vorsitz der Militärs und das Atavistische am Ritual der Weinlese; zugleich betont er die Wichtigkeit einer eben erst proletarisierten Arbeiterschaft. Und obwohl es sich bei dem angekündigten Film nur rein zufällig um O ZÉ DO TELHADO[2] handelt Absicht, eine fiktive Rebellion mit dem Gefühl der potenziellen Notwendigkeit einer Rebellion zu vermischen, ganz unverkennbar.
Gustav Deutsch bewegt sich in einer Problematik, die der Postmoderne am Herzen liegt, ohne in die Falle zu geraten, die Dimension der Historizität zu leugnen, die sich auf das Leben der Bilder auswirkt, und erlaubt (sich) so, die Grenzen seiner Wirklichkeit weiter auszudehnen.
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[1] "Neuer Staat", die Diktatur des Salazar-Regimes in Portugal
[2] Zé do Telhado gilt als eine Art portugiesischer Robin Hood