Monika Schwärzler
Hanna Schimek und Gustav Deutsch sind Reisende aus Profession. Seit 1986 betreiben sie die „Kunst der Reise" und nehmen es im Zusammenhang mit diesem Projekt immer wieder mit dem Fremden, scheinbar Unüberschaubaren und Verwirrenden moderner Großstädte auf. Dort errichten sie vor Ort Stützpunkte, bauen Netzwerke auf und treten in Interaktion zu dem, was sie vorfinden.
Aber sie haben auch nordafrikanische Wüstengebiete bereist und die Wasser, die Fauna, die Wege und Oasen der Wüste untersucht. So machten sie etwa eine vergleichende Studie der Wassersysteme dreier Oasen, nahmen Tiefenmessungen des Wasserstandes vor und stellten Berechnungen der Wassermengen an. Ihre Ergebnisse hielten sie in Fotografien, Tonmodellen, Aquarellmusterkarten, Zeichnungen, Wortlisten etc. fest. Sie verhielten sich als Forschende und rekurrierten bei diesem Prozeß der Bestandsaufnahme auf alle ihnen zur Verfügung stehenden sinnlichen und intellektuellen Vermögen. Einerseits gingen sie genau und planmäßig vor, schritten vermessend Strecken ab und trugen Zahlen- und Meßverhältnisse an die Landschaft heran. Andererseits war ihr ganzes Sensorium mobilisiert und auf Aufnahme gestellt. Da galt es Zeichen zu deuten und Hinweisen zu folgen, Fährten aufzunehmen, sich Anhaltspunkte zu verschaffen, folgerichtig vorzugehen und wach und aufmerksam zu sein gegenüber der Eigenart der Landschaft.
Mit dem geschärften Aufnahmevermögen von Reisenden und Überlebenden in unwirtlichen Gegenden erlebten sie dann eines Tages auch die Abteilung-römisch-vier-Strich-eins des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Dort stießen sie nämlich auf etwas, was ihren Fährteninstinkt prompt ansprach. Da war im Gangbereich eine Spur ausgelegt, die der erfahrene Reisende nur als Hinweis auf verschollene und unverfügbare Bedeutungsstrukturen nehmen konnte. Sie stutzten wahrscheinlich, kamen unwillkürlich von ihrem Weg ab und verwandelten sich von Zielstrebigen in Scheuende und Schauende. Sie unterbrachen ihren Gang durch den Korridor und nahmen das Merkwürdige in den Blick. Da holte einen doch tatsächlich an einem Ort, an dem man das Bekannte voraussetzen konnte, das Befremdliche ein und stellte seine Ansprüche. Spätestens ab dann entpuppte sich die sich so unverfänglich gebende Behörde als Fremdterritorium.
Aber nicht nur Reisende und Wegsuchende fühlen sich von Spuren angesprochen. In unserer täglichen Orientierungsarbeit nehmen wir dauernd Spuren auf. Das Problem ist nur, daß all unsere Spuren diese hermeneutische Selbstaufhebungstendenz in sich zu haben scheinen und irgendwann unweigerlich und idealerweise mit ihren Ursachen zusammenfallen. Unsere Spuren führen notgedrungen zu Tätern und Tatwerkzeugen. Spurenlese in unserem Verständnis heißt Indizien sammeln, Schlüsse ziehen und Ursache in die Nähe rücken. Irgendwann kommen wir dann den Dingen auf den Grund und in dem Moment versickert die Spur.
„Der Kunst auf der Spur" oder vom Umgang der Kunst mit Spuren - Was, wenn es in der Kunst anders wäre und Spuren dort erhalten bleiben dürften? Im Alternativunternehmen von künstlerischer Spurenlese würden nur die Mechanismen von Bedeutungsproduktion offenkundig. Die dem ganzen Prozeß inhärente Finalität und Dynamik wäre von Interesse, und wenn immer Täter in den Blick kämen, wären diese allesamt nicht beglaubigt und ihr Verursachertum unausgewiesen.
Wie war das nun aber mit der Spur in der Abteilung-römisch-vier Strich-eins der Kunstförderung des Unterrichtsministeriums? Wer hinterließ da so hartnäckig eine Spur? Wer besaß die Unverfrorenheit, sich mittels tief eingeätzter Spur gegenüber anderen, anonym Durchgehenden zu privilegieren? Wer hatte es nötig gehabt, sich des geglückten Rückzugs über so eine penetrante Tropfspur zu vergewissern? Jemand hatte über 25 Meter Länge die Dreistigkeit durchgehalten, individuelles Fortkommen in Teppichfilz einschreiben zu wollen. Ein Sabotageakt also und schwerwiegender Verstoß gegen das Prinzip der Unauffälligkeit? Oder war die ganze Fährte lediglich eine Zufallsspur, von einem lecken Putzeimer planlos angelegt?
Oder - in Anbetracht des Aufgabenbereichs der Abteilung bot sich noch eine andere Lesart an - vielleicht war die Spur bestellt und in Auftrag gegeben worden. Möglicherweise handelte es sich um eine geförderte Spur und das Resultat eines künstlerischen Aktes.
Die fragliche Spur hat in jedem Fall Qualität und widerstand bis dato allen Erklärungsversuchen. Als Fährtensucher und Reisende in Sachen Kunst sind Hanna Schimek und Gustav Deutsch ja auch viel lieber unterwegs als irgendwo anzukommen und haben sich deshalb nicht von ungefähr eine erklärungsresistente Spur vorgenommen, zu der es keinen Verursacher und damit auch keine verbürgte Geschichtsversion gibt.
Mit neu montiertem Bedeutungshorizont wirkt die Spur wie eine Aufforderung zum Lesen. Ein entsprechender Text ist aber nicht vorhanden, sondern muß erst produziert werden. Wie alle ästhetischen „Spurensicherer" bringen Schimek und Deutsch nicht nur das Bewahrungswürdige unter Dach und Fach, sondern setzen durch die Art, wie sie das Bedeutsame einführen, die Erzählung in Gang. Sie bringen die anderen zum Lesen und kurbeln damit auch die Textproduktion um ein rätselhaftes Teppichstück an. „Lesen bedeutet indes de facto, in einem vorgegebenen System herumzuwandern (im System des Textes, analog zur baulichen Ordnung einer Stadt oder eines Supermarktes)."[1] Lesen wäre dann nicht nur sklavisches Entziffern, sondern ein sich frei Bewegen im Bedeutungsraum einer Erzählung. „Er (der Leser) erfindet in den Texten etwas anderes als ihre ‘Intention‘ war. Er löst sie von ihrem (verlorenen oder nebensächlichen) Ursprung."[2] Im Falle der Teppichspur hat der Täter oder die Täterin glücklicherweise längst das Weite gesucht, das Getropfte allein und unkommentiert gelassen und damit einer möglichen Erzählung den allerbesten Dienst erwiesen. Nach Certeau sind Leser Reisende - „sie bewegen sich auf dem Gelände des Anderen, wildern wie Nomaden auf Feldern, die sie nicht beschrieben haben (...)"[3]
Schimek und Deutsch haben sich nicht nur detektivisch eines Rätsels angenommen und waren nicht nur bestrebt, Bedeutung abzuleiten, sondern haben auch hinzugefügt und Bedeutung vermehrt. Das Haus, die räumlichen Gegebenheiten, sind durch sie zum Gegenstand von Erzählung geworden. Indem sie eine ursprünglich nicht über sich hinausweisende Tropfspur als Erzählstruktur behandelt haben, haben sie den Anstoß zu unterschiedlichsten Geschichtsversionen gegeben. Als Abenteuerwillige sind sie vorbeigekommen und haben den Ort beim Wort genommen, haben ihn als Reisende und Lesende wahrgenommen und nicht als etwas, zu dem es nur fixe Verhaltens- und Benützungsanleitungen gibt. Damit haben sie den Ort noch einmal Fremdland sein lassen und ihm seine Beweglichkeit zu rückgegeben. Unter ihrem künstlerisch nomadischen Blick hat er wieder begonnen, Geschichten über sich in Umlauf zu bringen, sich zu wandeln, und das Fremde, nur begrenzt Verfügbare an sich hervorzukehren. Eigentlich müßte es auch Ehrungen wegen besonderer Verdienste um unbeachtete, graue Durchgangsbereiche geben. Würde der neuentdeckte Raum über die Mittel der Bühnentechnik verfügen, er ließe wahrscheinlich aus gegebenem Anlaß seine Alltagsansicht nach hinten klappen und kehrte die reine Wildnis hervor.
Als im Bereich der bildenden Kunst arbeitenden Künstler liegt Schimek und Deutsch natürlich auch daran, diese Art der unabschließbaren Geschichte/n auszustellen. Sie handelten deshalb schnell, als der alte Teppichboden erneuert werden sollte. Wie weiland in der Wüste rückten sie mit Behelfsgeräten - Zollstab, Halogenleuchte und Stanleymesser - an. Archäologen gleich trugen sie Boden ab und legten Schichten frei. Wie sich zeigte, ging die Spur durch und durch. Sie stellten die Teppichsegmente sicher und ließen nach den Originalen Farbkopien anfertigen.
Am Tag der Präsentation werden sie die alten Teppichstücke auf dem mittlerweile neuen Bodenbelag auslegen. Der Neue bekommt die alten Teile aufgebürdet. Halogenstrahler werden auf die Teppichschichten gerichtet sein und jedem klar machen, daß der alt Teppich eine Neubewertung erfahren hat und in einem anderen Kontext zu sehen ist. Er ist in den Rang von etwas Bewahrenswürdigem aufgestiegen, wurde für das Scheinwerferlicht entdeckt und dem Halbdunkel des Gangbereichs entrissen. Im neuen Status eines Erwählten und Bedeutsamen legt er sich noch einmal bereitwillig an den Ort seines ehemaligen Wirkens, aber jetzt wird niemand mehr wagen, über ihn hinwegzugehen, sondern alle werden um ihn herumstehen und sich über ihn beugen. An diesem Tag wird der Teppich einen Triumph über all jene feiern, die mittels Museums- und Theaterbeleuchtung auf Spuren gestoßen werden müssen.
Dann werden da noch seine fotokopierten Doppelgänger an den Wänden sein - schwerelose, fliegende Teppichteile. Durch die wird der alte Teppich in Augenhöhe gehoben werden und jeder wird sich ein Bild von ihm machen können. Die Tropfspur wird abstraktes Bildelement in seiner Bilderserie sein.
Als Objekt auf einem Pult wird ein Teppichbuch aufgelegt sein. Unter den Deckeln dieses Buches werden die 26 Teile, die der archäologische Eingriff isolierte, wieder zusammengeführt und komprimiert.
In Büchern läßt sich blättern. In der Tätigkeit des Blätterns lebt der Rhythmus des sich Fortbewegens über den Teppich noch einmal auf. Die Spur bekommt ein neues Appeal. Sie wird zum Muster und Dekorationsangebot. Der Zufall oder der Unglücksfall ihrer Entstehung verkehrt sich in etwas Planmäßiges.
Die Einladungskarte zur Präsentation ist eigentlich Ansichtskarte und vermittelt einmal nicht die Fassaden-, sondern die Bodenansicht einer viel aufgesuchten Dienststelle.
[1] Certeau de, Michel: Die Lektüre: Eine verkannte Tätigkeit, in: Barck, Gente, Paris, Richter (Hrsg.):
Aisthesis. Wahrnehmung Heute, Leipzig 1991, S. 295
[2] ebd., S. 95
[3] ebd., S. 97