GUSTAV DEUTSCH

Bibliografie thematisch

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GUSTAV DEUTSCH

Bibliografie thematisch

Nur ein Film ist. von Gustav Deutsch. Aber jetzt gehören ihm auch die anderen.

Alexander Horwath

1: FILM IST. besteht fast zur Gänze aus Ausschnitten existierender wissenschaftlicher Filme. Es sind Filme über den Flug der Rollertauben und über Intelligenzprüfungen an Affen, über „Verkehrte Welten" und das stereoskopische Sehen, über Hurricanes, „Stoßwellen in Luft", „Papierkugel duchbohrt Luftblase", „Geschoß durchschlägt Straußenei" und über die Zwerchfelldynamik beim Atmen, Singen und Musizieren. Über das Glas, wie es bricht, das Kleinkind beim Gehen und das Daimler-Benz-Auto, wie es in Zeitlupe gegen eine Steinmauer prallt.
Wie alle Bilder, die die Naturwissenschaften veröffentlichen, verfolgen auch wissenschaftliche Filme fast immer eine spezielle Pädagogik: Sie adressieren den Zuschauer als Nutznießer ihrer Erkenntnisse, d.h. im übertragenen Sinn: als Patient. Sie versuchen, den idealen - den einsichtigen - Patienten zu produzieren. Um außerhalb der Fachwelt verständlich und überzeugend zu sein, argumentieren sie nicht in ihrer eigenen Sprache (also mathematisch), sondern weichen in den Bereich des Ästhetischen aus. Dort treffen sie auf visuelle, erzählerische, poetische Konventionen. Das kollektive „ästhetische Wissen", das in diesen Konventionen gespeichert ist, gibt dem anderen, naturwissenschaftlichen Wissen eine Form. So entsteht eine Ideographie, die nahezu jeder Mensch - zu Schulzeiten oder im Schulfernsehen - lesengelernt hat. Aber ich denke, sie trägt weniger zur naturwissenschaftlichen als zur filmischen Bildung bei: Die Verachtung, die wissenschaftlichen Filmen oftmals entgegenschlägt, meint nicht so sehr den Inhalt, sondern ihr biederes, einfallsloses, lächerliches, vom Kommentar verseuchtes Erscheinungsbild; ebenso verdankt sich auch die (durchaus seltenere) Faszination für manche Lehrfilme meist allein der Kraft ihrer Bilder: Bilder, die man - selbst im Kino - noch nie gesehen hat.

2: FILM IST. versammelt solche Bilder in Hülle und Fülle. Man spürt hier nicht nur die Politik, sondern auch die besondere Poetik der Gattung wissenschaftlicher Film, die sich häufig „experimenteller" Gestaltungsmittel bedient: extreme Zeitlupe, extremer Zeitraffer, Lochung des Materials, teleskopische oder mikroskopische Kameraarbeit, Solarisierung, Belichtung durch Röntgenstrahlen. Gleich zu Beginn, im „Röntgentonfilm der Sprache" sagt ein skelettierter Kopf: „Heute können 24 Bilder in der Sekunde aufgenommen werden. Dadurch sind die wissenschaftlichen Auswertungsmöglichkeiten wesentlich verbessert." Aber was man sieht, ist eine stupende Verbesserung der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten: ein neues, aberwitziges und zugleich selbstreflexives Kinobild. Mit Hilfe solcher Filme kann Gustav Deutsch über das ganze Kino sprechen - mit Hilfe einer Gattung also, die zu den „nutzlosen", schmutzigen, vom offiziellen Stammbaum verdrängten Stiefkindern der Filmgeschichtsschreibung zählt (und die heute bestenfalls im Rahmen von Kult-Kompilationen, zur Belustigung studentischer Gemüter akzeptiert wird). Dort, im Unbewußten der Filmgeschichte, zeigt sich auch, daß Stilbildung nicht an den Grenzen des Spielfilms haltmacht: Der Lehrfilm „Warnung im Dunkeln" (1954) gebärdet sich wie ein typischer Film noir.

3: FILM IST. ist selbst ein poetischer Film. Wie die verschiedenen Teilstücke hier eine Reihenfolge und einen Rhythmus finden, erinnert an moderne Dichtkunst oder an die Fotoreihen des amerikanischen Künstlers John Baldessari: Bilder, die (was ihre Herkunft betrifft) nichts miteinander zu tun haben, „nicht zusammengehören", werden verglichen, verknotet, zusammengeschaltet. Es sind oft äußerliche Entsprechungen, formale Korrespondenzen, versteckte Anschlüsse, die zu einer Montage führen. Erst dann wird, wie bei der Traumarbeit oder einem Rebus, ein dritter (oder sechster) Sinn erkennbar - die Aktivität eines Psychoanalytikers, Ironikers oder Dichters. Zum Beispiel in den „Nachtversen" von Block 2.2, begleitet von Hundegebell: das Schattenspiel der Hände; der Mond hinter vorbeiziehenden Wolken; ein Scheinwerferkegel streicht über das sturmumtoste Dorf; bildfüllend der Mond; Motten im Licht; das Weltall - unendliche Weiten; eine Mondfinsternis; ein menschliches Auge - die Pupille reagiert auf dunkel und hell; eine lichtkreisförmige Akkumulation von Bakterien - „phototaktisches Verhalten".

4: FILM IST., der Titel des Films, bezieht sich auf die Vielzahl von Definitionen, die dem Medium im Lauf seiner Geschichte zuteilgeworden sind. Es scheint, als könnte FILM nahezu alles bedeuten, eine Metapher für die ganze Welt sein - für das, was in Platos Höhle geschah, ebenso wie für die Entstehung des Alls in den Mythen der Buschmänner. Die Frage WAS IST FILM? hat gemeinhin eine Kontraktion zur Folge, eine Reise ins Filminnere auf der Suche nach dessen Essenz. Die einzig richtige Antwort lautet hingegen: FILM IST MEHR ALS FILM. (So heißt schon ein kleinerer, einminütiger Deutschfilm, der Ausgangspunkt, Vorstudie, Auftakt zur vorliegenden Arbeit gewesen ist.)
Zur Aktivität eines Psychoanalytikers, der genau das „mehr als" im Visier hat, gehört große Aufmerksamkeit beim Suchen und Finden. Im kleinen, scheinbar beliebigen Fundobjekt/Filmstück vermag er die größere Struktur zu erkennen. Die mächtige Erzählneurose des Kinos z.B. artikuliert sich in einem kurzen Dreckstück von Film, das Deutsch auf einem brasilianischen Flohmarkt erwarb: ein von Putzmittel zerfressener Teststreifen, der je zwei Kader aus sämtlichen Szenen einer Seifenoper enthält. Mit diesem Streifen wurden Böden geschrubbt.
Der Analytiker visualisiert - wie der Wissenschaftsfilmer - einen logischen Zusammenhang, einen Code, eine Formel. Mit seinem Rekurs auf Konrad Zuses gelochte Filmstreifen, die als reißfestes Steuerungssystem für den ersten Rechencomputer dienten, kommt Deutsch diesem Prinzip am nächsten. Zuerst sind Zuses Formeln auf gestanztem Schwarzfilm zu lesen, dann erscheint das Bild einer Frau (die kreisrunden weißen Löcher im Bild erinnern erneut an Baldessari), und der Film wird schrittweise langsamer: erst 24, dann 8, dann 4, dann 2 Kader pro Sekunde. Diese Verlangsamung folgt einer mathematischen Formel, die Deutsch - als Lochcode - in den Film stanzen ließ. Wir sehen somit ein irritierendes, doppeltes Bild: einen (sich verlangsamenden) Film und zugleich seine (lochbildgewordene) Antriebslogik, die visuelle Spur seiner zeitlichen Struktur.

5: FILM IST. ist auch eine Art Archiv und Teil von Gustav Deutschs ironischer Kartographie der Bewegungsbilder. Schon in Projekten wie Adria (1990) oder Taschenkino (1995) hat er diverse Bild- und Bewegungstypen gesammelt und nach einem „wissenschaftlichen" System erfaßt (1.1, 1.2, 1.2.1 etc.). Deutsch respektiert und parodiert zugleich die Methoden der Wissenschaft. Deshalb richtet sich seine Arbeit weniger an autoritätsfixierte Figuren (den „idealen" Doktor/Lehrer oder den „idealen" Patienten/Schüler), sondern an Menschen, die im Kino die Möglichkeit spüren, Dogma und Autorität gegen den Strich zu lesen - die physikalischen Bedingungen des Mediums legen dies sogar nahe. Für Deutsch bedeutet filmisches Denken: „Man sieht als Filmzuschauer etwas anderes als das, was gezeigt wird." Der stroboskopische Effekt etwa bewirkt, daß sich im Kino die reale Bewegungsrichtung von Radspeichen oder eines Ventilators ins Gegenteil verkehrt. Block 5.2 wiederum führt in fremdartigen Bildern vor, was man sieht, wenn man die Augen verschließt.
Das schöne Wort vom „phototaktischen Verhalten" meint die Reaktionen, denen Zellen - und in Folge auch Pflanzen, Tiere, Menschen - unter bestimmten optischen bzw. Lichtbedingungen unterliegen. Im Lichtspielhaus sind es vielfältige Reaktionen, von Disorientierung über Spiegelung und Identifikation bis zu befreiendem Lachen. Der Schlußteil des Films, Block 6.4., ist dieser Grundsituation gewidmet: ein Schauspieler, der zu einer Leinwand spricht; der Strahl des Projektors; eine Filmzuschauerin; ein Schauspieler, der in die Kamera (ins Publikum) blickt; die Filmzuschauerin lacht.
Abschnitt 3 (FILM IST EIN INSTRUMENT) hat zuvor den unfreien Menschen gezeigt: Er wird vermessen, seine Arbeit mit Zeit verschaltet und auf „Effizienz" umgelenkt. Als Meßinstrument für Bewegung im Raum wurde Film etwa gleichzeitig mit den modernen Methoden der Organisation von Industriearbeit erfunden; ihnen dient er auch als Kontrollinstrument. Der Zweck dieser Filmbilder (das Ökonomische) und ihre Form (das Ikonische) sind zu einem machtvollen gesellschaftlichen Komplex verschweißt. Ihre Präsentation in FILM IST. - außerhalb ihres Entstehungskontexts und erweitert vielleicht durch ironische Bild- und Tonmontage - schafft die Gelegenheit, Aufklärung über den ganzen Komplex zu erlangen. Etwas anderes, als das, was gezeigt wird: „mehr als".
Aus Studien zur byzantinischen Kultur und Theologie können wir lernen, „daß das Wort ,Ökonomie' gleichzeitig eine Steuerungsform, eine Form der Interpretation religiöser Bilder und schließlich eine sehr ausgeklügelte Theorie der Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren bezeichnet" (Bruno Latour). Eventuell folgt daraus, daß - heute mehr denn je - gewisse Formen von Ikonoklasmus auch „ökonoklastisch" zu wirken vermögen.

6: FILM IST. enthält nur einen einzigen Ausschnitt, den Gustav Deutsch selbst gedreht hat: einen Blitz in der Nacht. Aber auch dieser kurze Moment ist eine Metapher fürs Ganze: für die Art, in der FILM IST. einschlägt im Kino und dabei die dunkle Ahnung erhellt, daß kein anderes Wissen schaffendes Verfahren so lebendig und offen und denkfähig wie Film ist.