Das Wesen des Kinos ist auch deshalb so kompliziert, weil es so einfach ist.
Stefan Grissemann
Was das Kino kann, was es sein und darstellen kann, ist nicht leicht mitzuteilen, schon gar nicht: in Worten. Wer in Ton- und Bilderfolgen, also "praktisch" argumentiert, hat da schon mehr Aussicht auf Erfolg. Sicher ist jedenfalls, daß es etwas gibt, das den Film, das bewegte Bild, über die angrenzenden Künste hinaus ins Eigene setzt. Das Illusionsinstrument Kino lügt, wenn es die erste Blende öffnet, und zugleich ist es, weil es sich hinwegsetzt über die Zumutung des "Realistischen", wahrer als die einsinnige "Wahrheit" des Positivisten je sein könnte. Film ist gerade in seiner Liebe zum Physischen radikal metaphysisch - indem er festhält, was ist, und die Dinge anschließend so ordnet, wie sie sein könnten. Das Wesen des Kinos ist auch deshalb so kompliziert, weil es so einfach scheint.
Es sei, schreibt der junge Jacques Rivette 1950, "frappierend, heute bestimmte Filme von Stiller, Murnau oder Griffith wiederzusehen; man bemerkt, wie außergewöhnlich wichtig darin die Gesten der Menschen sind, alles, was in jedem empfindsamen Universum sich ereignet: dem einfachen Akt des Trinkens, Gehens, Sterbens eignet darin eine Dichte, eine Fülle von Bedeutungen und die verworrene Evidenz des Zeichens, die immer alle Interpretationen und Beschränkungen transzendiert - die daher im Film aufspüren zu wollen zwecklos wäre; wohl kaum jemand außer Vigo und Renoir suggeriert in gleicher Weise eine unablässige Improvisation des Universums, eine beständige und ruhige und sichere Erschaffung der Welt. Das Schweigen erklärt nichts."
Gustav Deutsch arbeitet sich, als Filmemacher, seit Jahren an einem wachsenden Kompendium der Oberflächen und Wirkungsweisen des Kinos ab. Film ist, nach Deutsch, unüberschaubar vieles, ein Katalog dessen, was das Kino sein kann, ist daher immer, notgedrungen, offen. Man kann einen solchen Katalog aber, auch wenn er nicht zu Ende zu bringen sein wird, immerhin beginnen. Film ist, zum Beispiel, komisch: Kapitel sieben in Deutschs Abriß des Eigensinns des Kinos, zugleich das große erste Kapitel des zweiten abendfüllenden Programms seiner laufenden Film-ist-Serie, demonstriert die mitreißende Fremdheit, Anarchie und Abgrund eines sich seiner Reifezeit behende nähernden Mediums.
Deutsch hat, für Film ist. 7-12, Bewegungsbilder aus gut drei Jahrzehnten, den ersten drei Dekaden des (noch stummen) Mediums gesammelt: kaum bekannte, oft ungeheuerliche Bilder, fast vergessene, verdrängte, von den Leinwänden in die Regale der Filmmuseen verschobene Bilder. Was der Filmemacher gefunden hat und einsetzt, geht nicht nur über den Kanon des klassischen Stummfilms weit hinaus, sondern eröffnet tatsächlich die Möglichkeit, das Kino, das dokumentarische und das fiktive, das avantgardistische und das konservative, rückwärtsgewandte Kino, neu zu sehen - und damit in gewisser Weise auch: den Film an sich.
Den Begriff des Komischen versteht Gustav Deutsch offensichtlich - und glücklicherweise - wie das englische funny, blendet das Spaßige und das Befremdliche unauflösbar in- und übereinander. Das erste Bild: ein Angstbild. Eine Frau tritt aus dem Dunkel, das auch jenes des Kino-Zuschauerraums ist, durch eine Tür, blickt ängstlich, nachtblau getönt, in ein unwägbares Außen, ins Licht. Was folgt, kommt Schlag auf Schlag, motivisch assoziiert: Es gibt Slapstick (dicke Männer, fall guys) und "Pikantes" (Damen in Umkleideräumen), Melodramatisches und Aufwühlendes, Albernes und Destruktives (Bürgerzimmer, in Schutt & Asche gelegt). In der Montage, die Deutsch seinen ausgewählten Filmstücken auferlegt, werden die Räume surreal, phantastisch ineinander geschachtelt, als wäre die Welt ein gigantisches, in unaufhörlichem Umbau befindliches Filmstudio.
Die Schauspieler, Artisten allesamt, wagen einen cliffhanger nach dem andern, an den Fassaden der Hochhäuser hängend und auf Leitern in den Himmel steigend. Tausend Möglichkeiten, photogen auszurutschen, lotet das frühe Kino aus, man hat den Eindruck: bis ins letzte. Spätestens 1925 sind alle Tricks und Wege verbraucht, vor der Kamera innovativ abzugleiten und zu fallen; seither beruhigt sich das Kino wieder, variiert rekonvaleszent seine etablierten Gangarten und Sturzweisen, bewegt sich von der Physis zur Psyche zurück. Die Lust am spektakulären Unfall war nie größer als in den ersten dreißig Jahren des Films; an Gartenschläuchen, deren Wasserzufuhrs-Turbulenzen seit Louis Lumiéres Arroseur arrosé, also von allem Anfang an, beliebt waren, entzündet sich unter anderem die Phantasie. Wiedergänger, Untote sind in all den Bildern, die Deutsch gefunden hat, zugange: Das junge Kino reproduziert tonlos, immer wieder und wieder, was sich an Leben einst in seinen Blick gewagt hat, gibt als bloßen Lichtreflex, verblichen wieder, was ihm einmal lebendig erschien.
Eine unbändige Liebe zum Material des Kinos, zur angreifbaren, angegriffenen Filmmaterie ist Deutschs Kompilation anzusehen. Seine Bilder sind liebevoll getönt, zerkratzt oder vernebelt, gestochen scharf wie frisch aus dem Kopierwerk oder abenteuerlich patiniert: Der Reiz, den man am instabilen Rohstoff des Kinos finden mag, ist so vielfältig (und letztlich: so unergründlich) wie die Lust am Filmsehen selbst.
Eine Passage in Film ist. gilt einem populären Erzählverfahren des early cinema, dem Einsatz der Kreisblende, die als Code des Voyeurs, des blicklüsternen Kinozuschauers gilt: Der Blick fällt durch Ferngläser und Schlüssellöcher, hinter denen sich die ganze Welt befindet, das Ersehnte oder das Erschreckende, was immer das Auge begehrt; anything goes, ein schneller Schnitt genügt, um zwei einander ferne, einander fremde Schauplätze eng aneinander zu binden. Deutschs Re-Montage der Bilder suggeriert "unmögliche", genau darin "filmische" Blickketten, eine Serie der heimlichen Blicke. Ein Mann späht von einem Felsen aus ins Meer, faßt in der Ferne ein Schiff ins Auge, auf dem sich, wie es scheint, eine Gruppe von Seeleuten an Deck - nun in Nahaufnahme - via Feldstecher eine exotische Tänzerin heranholt, die leichtgeschürzt auf einer Studiobühne sich selbst darstellen muß.
Die Musik, aus historischer Distanz dazugelegt, wahrt, in aller Stille, das Geheimnis, das jedes dieser Bilder umschließt: Die Musiker (Werner Dafeldecker, Christian Fennesz, Martin Siewert und Burkhard Stangl) weichen der Gefahr der Illustration, so gut es geht, aus. Ihre elektronische, akustisch flimmernde Arbeit bietet eher die Gelegenheit einer Meditation über die Bilder, scheint diese noch nachzuschärfen; ein elegischer Grundton durchdringt den - dabei entschlossen modernen - Soundtrack, in dem eine Dramaturgie der kleinen Verschiebungen hörbar wird, in dichten, surrenden Klanglandschaften.
Die Gesetze der Schwerkraft zählen im Kino von allem Anfang an nicht mehr, die Realität erweist sich am Schneidetisch als ausbaufähig. Wie man Verfolgungsjagden inszeniert - zu Fuß und automobil, über kollabierende Brücken, knapp an daherrasenden Zügen vorbei oder mitten hinein -, gehört (wie die Frage der Inszenierung ausrutschender, abgleitender Figuren) zu den Grundproblemen des Unterhaltungsfilms. Neben der Gier nach der Verschrottung, die solche Fragen stets begleitet, finden sich dabei durchaus prophetische Bilder: Hitchcocks Flugzeugangriff auf einen einzelnen im weiten Nichts (in North by Northwest) hat jemand, das lernt man hier, schon ein paar Jahrzehnte davor als gewaltiges Bild erkannt.
Inszeniert ist alles, gerade auch das "Dokumentarische", die Aufnahmen der filmenden Anthropologen, die sich noch entlang der ästhetischen Vorgaben der Photographie des 19. Jahrhunderts bewegen. Die Obszönität gehört zur Kunst des Kinos, als wäre das immer schon ihr angestammtes Reservoir: Die Übertretung des Salonfähigen in der Jahrmarktvergnügung der bewegten Photographie ist der Ausgangspunkt des Filmischen, davon ist es, bis heute, nie ganz losgekommen.
Das magische Potential läßt sich dadurch nicht schmälern, im Gegenteil: Das frühe Special-effects-Kino, ausgehend von den Feérien Georges Melies', erfreut sich am Obszönen und an der Gewalt, am Horrorzauber seiner Bilder. Ein Mädchen verwandelt sich in eine Spinne, ein anderes wird enthauptet, die Zeit läuft rückwärts, so wird alles nur noch schlimmer, immer noch gräßlicher, schauerlicher - gut, daß das nur Kino ist. Im Labor der Filmstudios erzeugt man Laborgeschichten, spielt mit der schwarzromantischen Idee der Alchimie, in handgemachten, buntgefärbten Filmen. Die Transformation, der unheimliche Übergang vom einen zum ganz anderen, speist als filmische Zentralfigur das junge Kino: Frühe Varianten des morphing sind hier zu erkennen, die die begehrten Geschichten von Geistererscheinungen und Auferstehungen technisch erst ermöglichen. Die Magie kann aber auch unerwünscht, "von außen" kommen, sich an und über den Bildern befinden, in Beschädigungen und Verschmelzungen, die sich zu lichten, traumgleichen Effekten verdichten. Der Fehler im System wächst sich zum Zauberbild aus.
Der primäre Fetisch des Kinos, die Bewegung, wird mit der sinnlichen (und auch maschinengetriebenen) Erfahrung des Reisens gekoppelt. Man erobert sich, über den Blick, das Gebiet, das man durchquert/verfilmt: Im Zug bewegt sich der Reisende durchs Land und durch Tunnels, durch Licht und Dunkelheit. Flugkörper steigen in den Himmel, und mit den Zeppelinen und den Flugzeugen naht auch, ganz unausweichlich, schon der Krieg. Ein alter Herr demonstriert sein Kriegsgerät, wendet sich anschließend manierlich der Kamera zu, läßt sich aus dem Off den Hut reichen und verneigt sich, ein Gewaltfreund alter Schule, vor seinem imaginären Zuschauer. Auch im Kino, gerade dort, wird Krieg geführt: ein Krieg der Vorurteile, der Einvernahme, der inhumanen Inszenierungen (die feine Gesellschaft gegen die "Wildnis", der Salonlöwe gegen den Buschmann).
Die Schrift ist, wie die Sprache, seit jeher Teil des Kinos, auch des stummen: Die Inserts evozieren Bilder, verweisen immer wieder auf den Blick und die Unmöglichkeit des Nichtsehens ("Bitte nicht herschauen"). In den typographischen Differenzen wird das ganze Spektrum von der Sachlichkeit bis zum hohen Drama buchstäblich ersichtlich: Leinwandfüllend prangt ein "JAMAIS!", überlebensgroß, "geschrien", zwischen zwei Einstellungen. Das Kino ist, immer schon, beschriftet - zwischen, über oder in den Bildern, in eingeblendeten Briefen und der Sprache der Körper, zu dem der mahnende Zeigefinger des pädagogischen Filmemachers zweifellos gehört: Deutsch, selbst (ironischer) Pädagoge, faßt all das (und mehr) zusammen, arrangiert Verwandtes und Identes zueinander, in Parallelmontagen und Parallelerzählungen, ganz wie die Bildermacher, deren Werk er (nach)bearbeitet.
Nichts scheint prägender für das stumme Kino als sein Sinn für Gefühl und Leidenschaft: Die geschminkten, gemalten Gesichter der Mimen sprechen, brüllen, in ihnen rollen die Augen, der Verklärung entgegen. Das Arsenal des Gefühlskinos wird hier ausgebreitet, all die melodramatischen Kürzel, die die Tragödien formulieren und besiegeln: Lichtreflexe tanzen, Klingen blitzen, Schleier wehen. Bühnenhaft breit spielt man seine Lust- und Selbst- und Rachemorde durch, für die und vor den Augen der Kinogänger. Die Poseure der Letzten Dinge tun ihre Pflicht, indem sie im Licht der Scheinwerfer stechen, weinen, würgen und sterben.
Überall wird die Kinomaschine gekurbelt, auch in der sogenannten wirklichen Welt, die sie durch bloße Präsenz schon bearbeitet und verfremdet: Sie dringt in alle Lebensbereiche, bis in die Schlafzimmer vor. Sie richtet sich die Welt zurecht, wie sie ihre Kurbler gerne sähen: Geordnet, in Paraden gestaffelt, streng geteilt in "zivilisiert" und "wild" (also: in wir und sie). Nicht alles ist ein Dokument, was danach aussieht, auch das führt Film ist. vor. Die Propaganda beginnt mit dem ersten Bild.
Stefan Grissemann, Dezember 2001