Claus Philipp im Gespräch mit Gustav Deutsch
„Film ist." Unter diesem lakonischen Titel versammelt der Filmemacher Gustav Deutsch Fragmente des frühen Kinos zu einer lexikalischen Schule des Sehens. Claus Philipp sprach mit ihm über den zweiten Teil dieses Tableaufilms, der nun in Wien zu sehen ist.
„Ich forsche in den Abfalleimern der Filmgeschichte." Seit Jahren entwickelt der Wiener Künstler Gustav Deutsch auf der Basis von Fundstücken eigenwillige Blickbewegungen, in denen auch das Vertraute wieder fremd wird. Film ist. (der Punkt im Titel ist Programm), eine epische Montage von kurzen Sequenzen aus der Frühzeit des Kinos, ist diesbezüglich sein bisher aufwendigstes Unternehmen. Gemeinsam mit Hanna Schimek hat Deutsch in internationalen Archiven über 3000 Filme gesichtet - das dazu bei Sonderzahl erschienene Buch heißt lakonisch Film ist. Recherche. und während er im ersten Teil von Film ist. das Augenmerk auf Lehrfilme legte, so wendet er sich nun dem Jahrmarkts- und Attraktionen-Aspekt des Early Cinema zu. Film ist in sechs jeweils 14-minütigen Kapiteln also „Komik", „Magie", „Eroberung", „Schrift und Sprache", „Gefühl und Leidenschaft" und „Erinnerung und Dokument".
STANDARD: Vor einer derartigen Überfülle an Material - wie setzt man da die Prioritäten?
Gustav Deutsch: Während der Suche in den Archiven findet man natürlich Dinge, die man nicht gesucht hat. Aber wir haben auch nicht entlang von Titeln oder Autoren recherchiert, sondern mithilfe von Stichworten, einer ersten Konzeption von Kapiteln...
STANDARD: ...die sich aber im Lauf der Recherche noch verändert haben?
Deutsch: Ja, zum Beispiel beim Kapitel Gefühl und Leidenschaft wollte ich zuerst auch die Leidenschaftlichkeit der Kameraarbeit thematisieren: Waghalsige Dreharbeiten auf Stahlkonstruktionen in New York zum Beispiel, aber sie haben dann nicht mehr in die Textur des Kapitels gepasst.
STANDARD: Der Film hat sich in der Recherche selbst immer wieder umgeschrieben?
Deutsch: Ja, wesentlich waren natürlich die Mitarbeiter der Archive, die uns zu unseren Stichworten auf Szenen hinwiesen, die ihnen besonders einprägsam erschienen: Das heißt ihre Vorlieben und ihre Blicke, die man aus den konventionellen Katalogen nicht ablesen kann, haben in der Vorauswahl den Film ganz wesentlich mitgeschrieben.
STANDARD: Und so wird Film ist. auch zu einer Montage von Blicken auf das Kino?
Deutsch: Der Umgang mit Archivmaterial ist - wie jede Sammlertätigkeit - immer extrem subjektiv bestimmt. Jedes Filmarchiv hat da eine eigene Blickrichtung, ja Handschrift. Manche sind eher traditionell orientiert, andere haben eine ganz starke Vision.
STANDARD: Wie definiert sich eine archivarische „Vision"?
Deutsch: Das niederländische Filmmuseum etwa hat vor fünf Jahren damit begonnen eine Sammlung von anonymen Aufnahmen zu retten. Das sind Fragmente, oft nur wenige Sekunden lang, wie sie jede Sammlung hat, aber kaum jemals archiviert, weil das im herkömmlichen Sinn für das Renommee eines Archivs nichts bringt: Man kann auf keine „geretteten" Kunstwerke verweisen.
Für mich waren dies „Bits and Pieces" ganz entscheidend - eine Bildbank, bestehend aus 460 Teilchen: Das nenne ich einen visionären Blick -, eine Wertschätzung, die weg geht von gesicherten Vorlieben, hin zum normalerweise Ungeliebten.
STANDARD: Film ist. stellt solches Material wertfrei neben kanonisierte Schätze wie etwa Filme der Brüder Lumière.
Deutsch: Diese Anonymisierung ist ganz entscheidend, wenn man einen neuen Bedeutungszusammenhang, ein eigenständiges Kunstwerk anstrebt: Prinzipiell hatte ich also mit Filmen, die einen hohen Wiedererkennungswert haben, Probleme. Ein Film von Georges Mélies, bei dem man nach fünf Sekunden den Urheber erkennt, wäre für meine Montage ungeeignet. In der Wiedererkennung würde der Film ja nur dokumentarisch funktionieren.
STANDARD: Diese Hinwendung zum „Ungeliebten" ist eine Konstante in Ihrem Werk: Ähnliche lexikalische Anordnungen haben Sie schon mit Home-Movies von Italien-Touristen unternommen.
Deutsch: Ja, es geht mir immer wieder darum, Schlüsselsequenzen zu finden. Film ist. sollte nie eine Dokumentation über die ersten Jahrzehnte des Kinos werden. Das Thema war, Sequenzen zu finden, die bis heute für die Kinematografie Gültigkeit haben. Die Zeit, aus der diese Bilder kommen, spielt für mich keine Rolle. Eine melancholische Würdigung einer Epoche war für mich nicht interessant.
Wie im Hobbyfilm der Jetztzeit sind aber im frühen Kino, dem „Kino der Attraktionen", wie es Tom Gunning nannte, Bausteine des Films ausgestellt - mit einer seltenen Klarheit und Direktheit. Ein Ding steht neben dem anderen. Man kann sie, so pur, wie sie für sich stehen, auch neu anordnen und kombinieren.
STANDARD: Diese Sequenzen funktionieren also wie für sich wertfreie Sprachbausteine?
Deutsch: Ja, man hat eine ganz minimale Sache - eine Zugfahrt etwa - vor sich. Ohne komplexe Querverbindungen. So wie heute ein Hobbyfilmer nichts anderes will, als zum Beispiel seine Familie an verschiedenen Orten einer Reise zu dokumentieren. Er arbeitet in einem sehr hermetischen, abgesicherten Raum - und das macht ihn stark. Der Amateurfilmer hingegen weiß schon, was er tun will und muss ...
STANDARD: Das heißt, er ist bereits durch Regeln verdorben?
Deutsch: Der Hobbyfilmer hingegen ist pur. Die Kamera ist nicht mehr als sein verlängerter Blick. Er ist gewissermaßen Teil des ganzen Instrumentariums. Mein Lieblingsschwenk beim Hobbyfilmer ist zum Beispiel der Suchschwenk: Die Landschaft wird nach möglichen Highlights abgetastet - während der Amateurfilmer schon vorher die Motivwahl trifft. Der Hobbyfilmer hingegen weiß nicht, wo er „landen" wird. Er lernt wortwörtlich zu schauen. Und so ist es auch bei den „Bits and Pieces". Der suchende Blick ist unglaublich präsent. Man sieht, wie Darsteller für die Kamera gehen lernen. Wie sie sich abgewöhnen, in die Kamera zu schauen. Wie das theatralische Spiel zunehmend filmisch wird.
STANDARD: Und das wird in Film ist. gleichsam einer seriellen Behandlung unterzogen. Das Spezifische wird symptomatisch für größere Kontexte. Hunderte Menschen blicken so plötzlich hintereinander zum ersten Mal durch Schlüssellöcher. Und werden sich selbst wieder fremd. Das erinnert an literarische Experiment.
Deutsch: Nicht umsonst ist der Film nach Kapiteln strukturiert. Das ist eine Form, die mir sehr nahe liegt. Und die Verleiher können diese Kapitel aus dem Kontext herausnehmen und jeweils wieder in neuen Abfolgen präsentieren.
STANDARD: Sie können quasi noch einmal drüber montieren, neue Verbindungen herstellen. Deutsch: Ja, und so entsteht im Kopf ein neuer Film.
Deutsch: Ja, und so entsteht im Kopf ein neuer Film