Tom Gunning
Bevor das Kino zum dominanten Geschichtenerzähler unserer Zeit wurde, diente es als Spiegel der Welt, der ferne Länder in ihrer großen und weit reichenden Unterschiedlichkeit einem neuen Publikum auf der ganzen Welt näher brachte. Im ersten Jahrzehnt des Kinos machten Alltagsfilme, die das Gewöhnliche wie das Ungewöhnliche aus allen Teilen der Welt zeigten, den größten Teil der Filmproduktion aus. Von traditionellen FilmhistorikerInnen wurden sie kaum beachtet, da diese Film im Wesentlichen als primär narrative Form verstanden. Was noch empörender ist, bis vor kurzem ignorierten auch DokumentarhistorikerInnen diese Filme, indem sie die Anfänge des Dokumentarfilms mit NANOOK OF THE NORTH[1] in den 20er Jahren ansetzten. Obwohl der überwiegende Teil dieser Filmberichte den Weg unseres vergänglichen filmischen Erbes gegangen und zu Staub geworden ist, sind tausende davon noch erhalten und dämmern in den Regalen von Filmarchiven vor sich hin. Durch den Aufstieg des Spielfilm wurde die Praxis des Alltagsfilms zwar an den Rand gedrängt, unbemerkt von der Fachwelt blieb seine Bildersprache jedoch essenziell.
Neue Arbeiten von engagierten Filmarchiven wie dem Nederlands Filmmuseum oder die Restaurationsarbeiten durch das British Film Institute und die National Fairground Archives an wiederentdeckten Mitchell and Kenyon Produktionen sollten FilmhistorikerInnen wie SozialhistorikerInnen auf den Reichtum aufmerksam machen, der in diesen vergessenen Schätzen enthalten ist. Wer diese Filme jedoch wirklich zu würdigen weiß, sind meiner Meinung nach die FilmemacherInnen, die bei ihrer künstlerischen Arbeit in diese Bilder eindringen und statt bloßer Fakten Geheimnisse entdecken und statt Zeitzeugnissen unvergessliche Bilder. Während in der vorigen Generation Filmemacher wie Ken Jacobs und Hollis Frampton ForscherInnen wie mich zur Fülle der frühen Spielfilme gebracht haben, sind es jetzt Ernie Gehr, Pieter Delpeut, Yervant Gianikian / Angela Ricci Lucchi und Gustav Deutsch, die frühe Alltagsfilme nicht bloß als Rohmaterial für ihre eigenen Arbeiten verwenden, sondern ihre verborgenen Geheimnisse und unheimlichen Enthüllungen geradezu sezieren und aufdecken. WELT SPIEGEL KINO Kino beschränkt sich nicht auf das Staunen über diese vergessenen Bilder aus einem jetzt fernen Alltag. In der Struktur dieses Films werden Bilder in einer Textur der Fantasie des Unmöglichen verwoben, einer Vision eines Kinos ohne Endlichkeit, das neue Bilder durch die Oberfläche anderer Bilder wachsen lässt, wodurch widersprüchliches Erleben von Oberfläche und Tiefe geschaffen wird, wie bei zwei Spiegeln, die man im spitzen Winkel zueinander aufstellt.
Die ersten Filmvorführungen gab es in den Städten, als Unterhaltung für die Massen, und die städtischen Massen gehörten auch zu den ersten und beliebtesten Themen des Kinos. Im frühen Kino kam es oft zu einer seltsamen Spiegelung: Die urbanen Massen drängten in die Kinosäle, um auf der Leinwand urbane Massen auf der Straße zu sehen. So reflektierte das Kino auf unheimliche Weise die städtischen PassantInnen, wobei sie sich selbst in einer Art mise en abîme auf der Leinwand erkannten. Manchmal erblickten sie sich tatsächlich selbst in diesem Spiegel, da Kinobesitzer oft vor ihren Lichtspieltheatern filmten, was sie später drinnen genau jenen Menschen vorführten, die sich filmen hatten lassen (das ist bei den Streifen aus Wien und Porto - den Episoden 1 und 3 von Deutschs Film - wahrscheinlich). Doch aufgrund des internationalen Filmvertriebs (den es von Anfang an gab) konnte das Kinopublikum auch die Angehörigen anderer Nationen und Kulturen sehen. Ob das, wie SozialistInnen zu dieser Zeit behaupteten, zu einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl führte oder lediglich als exotische Zurschaustellung des Anderen wahrgenommen wurde, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, da beide Arten der Rezeption möglich sind.
Was an den frühen städtischen Straßenszenen wohl am meisten überwältigt, ist ihre schiere Unerschöpflichkeit. So viele bewegliche Punkte ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, dass der Film aus dem Rahmen zu quellen scheint; das beobachtende Auge muss ständig wandern, um alles zu erfassen. Über die an Fabrikstoren aufgenommenen Filme der Mitchell and Kenyon Company schrieb ich: „ein fixes Viereck umschließt eine Welt der unvorhersagbaren Lebendigkeit und Bewegung, kann sie aber nicht im Zaum halten. Aus dem Hintergrund, von den Seiten, manchmal von vorne kommen die Massen ins Blickfeld, halten aber kaum inne, damit wir uns ein eindrucksvolles Bild von ihnen machen können, bevor sie wieder verschwunden sind. Man weiß gar nicht, wohin man schauen soll ... und wo das Zentrum des Interesses auftauchen könnte, während unsere Aufmerksamkeit von diesem Gesicht zu jener Bewegung wandert, vom grantigen Alten, der brüsk seine Arme schwingt, zur Augenblicksaufnahme eines Gesichts, in das wir uns verlieben könnten." Deutsch greift in das komplexe Material ein, doch gleichsam als Antwort auf die Vorstellung, diese flüchtigen Gestalten zu verfolgen, lenkt er die Aufmerksamkeit auf sie, bis sie zu Charakteren werden. Wie viele andere Filmemacher, die mit Material aus der Frühzeit des Films arbeiten (z.B. Ernie Gehrs EUREKA[2]), verlangsamt Deutsch den ursprünglichen Film, wodurch wir die flüchtigen Ereignisse etwas länger betrachten können. Ähnlich wie die Technik der Vergrößerung durch Abfilmen, die Ken Jacobs in seiner epochalen Reproduktion des Biograph-Films TOM TOM THE PIPER'S SON (1903)[3] anwandte, isolieren und durchdringen Deutschs optische Vergrößerungen quasi den Bildraum und konzentrieren sich auf eine einzelne Figur. Durch Überblendung verschmilzt diese Figur mit einer anderen, die ihr ähnelt, aber wahrscheinlich einem anderen Film entnommen ist. So wird eine neue Sequenz in die Originalaufnahme der Straßenszene vor dem Kino eingefügt wie eine eingebettete Erzählung, fokussiert auf diese Figur, die sich nun zum Charakter entwickelt hat.
Dieses in eine neue Sequenz mündende Isolieren und Vergrößern zieht sich durch alle drei Episoden, wodurch eine bizarre Erzählqualität des Bildes geschaffen wird. Wie in der Anfangsszene von Hitchcocks PSYCHO, bei der die Kamera nach einer Luftaufnahme der Stadt Phoenix durch das Fenster in das Hotelzimmer eindringt, in dem Marion Crane ihr Rendezvous hat, stellt Deutsch diese einzelnen Figuren heraus, um ihre individuelle Geschichte zu erzählen. Diese uns aus narrativen Filmen so vertraute zentrierende Bewegung der Kamera bringt hier eine Reihe von Widersprüchen mit sich. Der Kunstgriff des Eindringens und der Überblendung (die später durch eine symmetrische Überblendung und eine optische Rückwärtsbewegung ihren Abschluss findet und wieder zur langen Aufnahme des Straßenbildes zurückführt) leitet uns vom unzentrierten aleatorischen Raum der Alltagsszene auf der Straße in die fokussierte Szenografie eines von den Charakteren bestimmten Spielfilms. Opfert Deutsch damit den mysteriösen offenen Raum des frühen Alltagskinos dem konventionelleren Fokus des narrativen Films? Nein, denn diese scheinbaren Hintergrundgeschichten haben einen falschen Boden. Das eingebettete Material führt uns nicht wirklich in eine konventionelle Erzählung, sondern in eine weitere Abfolge von Alltagsbildern oder in ein kurzes Fragment mit Open End aus einem frühen Spielfilm (wie in einer Sequenz die Lausbuben mit ihren Streichen). Wir können das als Bilder aus dem Leben der Figur verstehen, die unsere Aufmerksamkeit hat (Bilder aus ihrer Vergangenheit oder Zukunft, als Soldat, Starker Mann im Zirkus, Tänzerin oder Arbeiterin in einer Dosenfabrik), doch wird keine spannungsgeladene Entwicklung einer dramatischen Situation aufgebaut, im Gegensatz zu der Anfangsszene in PSYCHO[4], die uns in Marion Cranes Hotelzimmer führt. Mit jeder Überblendung fallen wir von einem mysteriösen Bild in eine weitere Folge mysteriöser Bilder. Parallel zu diesem scheinbaren Ausgang ins Labyrinth vermitteln diese eingebetteten Bilder einen widersprüchlichen Eindruck von Oberfläche und Tiefe. Das Bild im Film wird größer, aber wir kommen ihm nicht wirklich näher, sondern die vergrößerte Oberfläche wird abstrakter, und das Bild droht sich im Schwirren der Filmkörnung aufzulösen anstatt in einen navigierbaren Raum mit Figur und Hintergrund zu führen. Genau in dem Moment, in dem der Film auf eine Geschichte zusteuert, werden wir zugleich unweigerlich mit seiner materiellen Beschaffenheit konfrontiert.
In jeder der Episoden wird eine Vergrößerung gezeigt, bei der nicht eine menschliche Figur, sondern ein Ankündigungsplakat für den Film im Mittelpunkt steht, der gerade im Kino gespielt wird, und die darauf folgenden Bilder sind ein Fragment aus einem Spielfilm. Die Bilder aus Fritz Langs SIEGFRIED[5] sind leicht zu identifizieren, was mir bei den anderen Filmen nicht gelungen ist, aber ihrer Bilder passen gut zu den Aufschriften auf den Plakaten (die Verbrecher mit schwarzer Kopfbedeckung für DIE SCHWARZE KAPPE[6] des Kinos in Wien, oder die Bilder, die offenbar eine Bauernrevolte darstellen und dem Film JOSÉ DO TELHADO[7] im Kino in Porto entsprechen.). An einigen Stellen führt ein Aufreißen des Bildes zu einer neuen Schicht, wie die Überblendung vom Auge des Drachen Fafnir, der von Siegfrieds Schwert getroffen wird, auf das Auge einer Figur in einem traditionellen asiatischen Drachentanz, oder jene von der Nahaufnahme einer Briefmarke, auf der Kaiser Franz Joseph abgebildet ist, zu Dokumentaraufnahmen des Kaisers. Wir erkennen darin die Möglichkeit der unendlichen Regression, in der jedes Bild den Blick auf eine Folge weiterer Bilder freigibt.
WELT SPIEGEL KINO befasst sich mit der scheinbaren Wechselwirkung von Oberfläche und Tiefe, von Abfolge und Erzählung, im Film. Bilder machen anderen Bildern Platz; sie füllen sich mit Bedeutung und entledigen sich ihrer. Die Strukturierung dieser bewegten und veränderlichen Bilder beruht auf unserem Erkennen von Ähnlichkeiten und unseren Erwartungen einer Erzählung. Hier werden diese Bezüge ständig miteinander so verwoben, dass sowohl unser Hunger nach Bedeutung als auch das Willkürliche dieses Wunsches evident werden. Wir verstehen den Film, aber nach und nach löst sich dieses Verstehen in ein endlos scheinendes Spiel der Ähnlichkeiten und Reflexionen, des Erkennens und des Rätselhaften auf. Von Walter Benjamin gibt es das faszinierende, obskure Zitat über das „Traumhaus des Kollektivs", die Lichtspieltheater und Panoramas, als „Häuser ohne Fenster." Mit dieser seltsamen Begrifflichkeit scheint er auf Leibniz und seine Beschreibung der Elemente der Wirklichkeit zu verweisen, die so genannten Monaden. Die Monade, so Leibniz, „hat keine Fenster, durch die irgend etwas ein- oder austreten könnte". Die Monaden stehen nicht mit der Außenwelt in Beziehung, sondern spiegeln einander, in jeder ist das gesamte Universum enthalten und sie wirken, wie Leibniz es ausdrückte, als „lebendige Spiegel". Gustav Deutschs Film präsentiert eine Monadologie des Kinos und stellt es als Spiel der Spiegelungen quer durch das Leben in unserer Zeit dar, als lebendigen Spiegel einer neuen Welt.
Übersetzung: Daniela Beuren (phoenix)
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1 Nanook of the North, Robert J. Flaherty, 1922
2 Eureka, Ernie Gehr, 1974
3 Tom the Piper's Son, Ken Jacobs, 1969
4 Psycho, Alfred Hitchcock, 1960
5 Die Nibelungen / Siegfrieds Tod, Fritz Lang, 1923
6 Den Sorte Hætte (Die Schwarze Kappe), Augustinus, 1911
7 José do Telhado, Rino Lupo, 1929