GUSTAV DEUTSCH

Bibliografie thematisch

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GUSTAV DEUTSCH

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Geschichte und Geste in Gustav Deutschs Welt Spiegel Kino


Drehli Robnik

In Welt Spiegel Kino fährt einmal eine Trambahn durchs koloniale Surabaya, auf der ein Schild in Niederländisch für „De Luze‘s Tafelwijne" wirbt. Noch mehr als an De Luzes Tafelweine gemahnt der Film an Deleuzes Tafel der Periodisierung des Filmbildes nach seinen wesentlichen Funktionen. Das klassische Filmbild als Enzyklopädie der geordneten Welt, das moderne als Problem/Pädagogik des Lesens, das reflexiv-moderne Filmbild, das sich, zumal als digitalisiertes, dem Gebrauch durch „Hineingleiten" anbietet - alle drei von Deleuze skizzierten Zustände des Bildes im historischen Wandel sind bei Gustav Deutsch übereinander geschichtet: Wir bekommen ein Lexikon/Tableau der Welt gemäß einer untergegangenen world order die entziffert sein will, und zwar durch ein „Reingehen" ins Bild, das Scannen, Anklicken, Surfen ist.

Das durch „Reingeben" auf seine Welt-Ordnung hin zu lesende Material zeigt Leute vor einem Kino. Die drei Episoden von Welt Spiegel Kino beginnen mit einem Schwenk und weiteren Ansichten einer Straße mit Lichtspielhaus, davor urbanes Gewimmel, im Herumstehen wie auch in Bewegung: Kinematograf Theater Erdberg, Wien 1912; Apollo Theater, Surabaya 1929; Cinema São Mamede Infesta, Porto 1930. Zuerst Found Footage von ausgesuchter Beliebigkeit, dann Zeitlupe und zoomende Fokussierung von Details, zumal Individuen. Anders als in Tom Tom the Piper‘s Son, Ken Jacobs‘ Klassiker der vergrößernden Abtastung des Gewusels früher Filmbilder, öffnen sich isolierte Bildzonen hier auf andere, in ihnen implizierte Bilder. Diese fungieren als Entfaltung eines imaginären Innen, in dem sich das mediale Außen ablagert, als Fortspinnen möglicher, wunschklischeedurchwirkter Biografien (ein bisschen wie die Fotoromane in Lola rennt): vom Erdbergstraßenbuben per Überblendung zu einem ähnlichen Buben vor dem Wiener Riesenrad, dessen Gesicht in die Vignette eines Eisenbiegers im Leopardendress überblendet. Der praterbudentypische Muskelmann steigt gedankenblasenhaft aus dem Fundus burschikoser Ich-Ideale auf, als Zukunftsentwurf (,‚Wenn ich groß und stark bin...") oder gar Rachefantasie in Reaktion auf die G‘nackwatsche, ehe der Bub bzw. sein Double unversehens von einem Passanten auf der Erdhergstraße verabreicht bekommt. Auch ein Mädchen wünscht sich was: Da steht eines vor dem Kinematograf Theater, da sitzt ein ähnliches in einer Spielszene, schreibt eine Karte am den Nikolo.
Ein Zoom auf die Briefmarke mit Porträt darauf überblendet ins Wochenschaubild desselben Mannes mit weißem Bart: Franz Jesef mit Federschmuck auf dem Hut.

Alles hängt zusammen: De Luze und Deleuze, Nikolo und apostolische Majestät. Was oder wen die Zooms und Freezes zum überblenden auswählen, ist spannend und überraschend, denn jeder beliebige Punkt im Bild kann Öffnung auf weitere Bilder werden, ohne dass diese Links einer externen Ordnung bedürften. Filmografische Daten zum montierten Material stehen im Abspann, nicht etwa am Bildrand, und ein Sounddesign aus alten Schlagern und neuer Kompositorik legt ein Gewebe aus Stimmungen, Akzenten, nach hallenden Erinnerungen aus, anstatt als Gefühlsanleitung zu fungieren.

Wenn alles zusammenhängt, entsteht ein fast paranoider Eindruck vonTotalität, von Globalität, nämlich von räumlicher Vernetztheit und lebenszeitlicher Alldurchdrungenheit einer Welt, die Film macht, die „sich aufführt", wie Deleuze schreibt (,‚le monde fait du cinéma"). Welt Spiegel Kino, das hängt zusammen, insofern Kino Welt spiegeln, ein Bild von Allerweltsmenschen (und seien sie Kaiser) geben kann, von allem an ihnen, ihrer gelebten Aktualität, ihren Lebensmöglichkeiten und deren Bedingungen. Zugleich spiegelt Kino Welt, ohne dass wir in diesem Spiegelbild sichtbar wären, es garantiert (so Stanley Cavell) die Präsenz der Welt um den Preis unserer Absenz von und Disloziertheit zu ihr. Das Kino verbürgt unser Zur-Welt-Sein nicht, sondern entblößt es im Bild: Umso bedeutsamer werden Klischees und Blickregimes, die uns sichere, fixe Positionen in der Bild-Welt zur Identifikation anbieten; darauf zielte die kinotheoretische Rede vom „Spiegelstadium". Aber selbst wenn Weltmarktkino als Weltspiegel ideologischer Verkennung zu fungieren scheint, repreduziert es doch immer die Kontingenz seiner Ordnungen mit, erneuert die insistierende Möglichkeit, dass das Prekäre modernisierten Lebens im Bild akut wird. Weltspiegel Kino, so heißen noch einige alte Lichtspielhäuser; eines von ihnen, das am Wiener Lerchenfelder Gürtel, ist seit Jahrzehnten Pornokino. Welt Spiegel Kino ist Pornokino, insofern der Film jenes nackte Leben aufspielen lässt, das unterm Zugriff industrieller und staatlicher Mächte in der Moderne massenweise, als Biomasse und desorganisiertes, affiziertes Fleisch, hervortritt. Durch Montage von Bildern, die Leben in seiner infamen Beliehigkeit erfassen und dabei oft hart anpacken, erfasst, erahnt, ertastet Deutschs Film auch Chancen mehrwertiger Lebendigkeit, die im Beliebigen steckt.

Nehmen wir etwa den impliziten Link oder Nachhall zwischen den Enden der drei Episoden: Die Wiener Episode geht von einem kleinen Mädchen aus der Erdbergstraßenmasse, das zu demoskopischen Zwecken gewogen und vermessen wird, ins Tableau eines Herrenabend-, sprich: Pornofilms über: ein rätselhaftes Setting, in dem ein größeres, Erdherg herausgezoomtes Mädchen nackt ein Sandbad nimmt; als ein Spanner kommt und so tut, als würde er sie waschen, schickt sie ihn weg und geht in die Bildtiefe ab. Episode 2 endet mit halbnackten Indonesiern, die sich lachend weißes Gespinst vom Körper zupfen. Was zunächst wie der Galgenhumor von Geteerten und Gefederten aussieht, erweist sich in folgenden Bildern als Resultat von Kapokverarbeitung: In einer Art Textilfaserbad stampfen die Männer die Wolle, bis ihre schwarzen Körper ganz in der weißen Masse verschwinden. Das Rätselhaft-Rituelle dieser Handlung hallt im kollektiven Weinstampfen in der Portugal-Episode nach, das fröhliche Verschwinden aus der Arbeitswelt in deren Schlussbild: In Zeitlupe und völlig unerklärlich rennt ein Bub durch eine leere Werkshalle in die Bildtiefe, bis an die Rückwand, die Fluchtpunkt in jedem Sinn ist. In oder durch die Wand: Ein vermessener Anspruch folgt vermessenen Körpern.

Fluchtbilder und Schlupflöcher tun not, wenn Disziplinen Massen erfassen, deren Nützlichkeit herstellen und filmisch herausstellen: Gleich aus dem ersten Passanten des Films holt die Montage das (Leit-)Bild eines gerüsteten, gedrillten Soldaten hervor. Portugiesinnen sehen wir organisiert in der Fabrik, beim seriellen Sardinendosenfüllen, und in der Kirche, in serienmäßiger Erstkommunionsausrüstung. Uniformen, Paraden, Ordensverleihungen aus der Entstehungsphase von Salazars klerikalem Ständestaat - die Porto-Episode ist von faschistischen Massenbewegungsbildern durchwirkt. Und da zeigt sich: Kino spiegelt Weit- und Massendisziplinierung, gleicht ihr aber nicht restlos. Auf einer Straße verfolgen Portugiesen im strammen Block die rudimentäre Bild-Übertragung eines Fußballmatchs, bei der ein Radiokommentar die Bewegung einer magnetischen Kugel über ein Spielfeld auf der Anzeigetafel einer Tageszeitung begleitet. Es scheint, als machten Zeitung, Radio, Sportfernsehen und die Kirche, Medium des Heiligen Geistes, die Massen brav, während Kino unheilige Körper in heillosem Wimmeln versammelt: The Unholy Three steht auf einem Kinoplakat in Surabaya. Vor den beiden anderen Kinos tummeln sich Schaulustige, die lustig in die Kamera schauen, feixen, deuten.

Faschismus fixiert, Kino bewegt das ist natürlich zu einfach gedacht. Deutsch zitiert jeweils einen Film, der laut Plakat in den Kinos der drei Episoden läuft, und da wird deutlich, wie gern auch das poppige Kino die „Birth of a Nation" und politische Gewalt beschwört, nur eben in heftigeren Formen als der Drill oder die Kirche. In Porto läuft José do Telhado, ein Monumentalfilm mit feschem Volkshelden, der Massen magnetisiert wie ein Star. Fritz Langs Siegfried sticht 1929 im Kino von Surabaya ins Auge des Drachen (ihn selben Jahr zerschnitt Buñuels Rasierinesser ein Auge, und rund sechzig Jahre später schnitt Gustav Deutsch Close-ups einer Augapfelextraktion in die Episode „Film ist. Ein Spiegel"). Der Nibelungendrache blendet ins Drachenkostüm eines fernöstlichen Umzugs über, und diese koloniale Konstellation - deutschnationaler Eisenbieger gegen Monster aus dem Osten - ist ihrerseits Nachhall der obszönen Bildverbindung, die Episode 1 aus dem Film im Wiener Kino herausliest: Männer in schwarzen Kapuzen, die im Krimi Die schwarze Kappe ein Entführungsopfer in sein Verlies tragen, gehen in wie Ku-Klux-Klan Gestalten vermummte österreichische Anthropologen über, die 1915 den Schädelabdruck eines russischen Kriegsgefangenen abnehmen. Andere, neuere Anblicke von zu Monstern stilisierten Gefangenen, die in den Status von nacktem Leben unter Kapuzen versetzt sind, drängen sich auf, als Bilder, die andere Bilder im Rückblick entziffern.

Masken durchziehen Welt Spiegel Kino. Das Grauen nationalistischer Biopolitik kündigt sich in Symptombildern an, maskiert als Schädelvermesser oder Drachentöter. Alles hängt zusammen. Auf einem Kinoplakat in Porto lässt sich der Titel Mascara do Ferro entziffern.Von Masken spricht man, wenn Bildschirme Dateneinträge ordnen, und auch Welt Spiegel Kino erkundet Vergangenes über Masken, Bilder, die Details isolieren, andere Bilder überlagern, dabei aber weniger auf Enzyklopädie und Geschichtsvermessung abzielen als auf den Zerfall nationaler Historie zur „Wiederkehr von Masken im Karneval der Zeit" (Michel Foncault). Anthropologie in Masken heißt auch, dass Tierkostüme universell werden: Indonesier als Drache, Kuh und Vogel kostümiert oder „gefedert", ein greiser Kaiser mit kessem Federschmuck, ein portugiesischer Offizier, der eine Taube küsst, als wollte er sie essen.

Kaiserfeder und Taubenkuss, Bilder, die vielleicht nicht nur für uns heute lächerlich wirken, bezeugen schließlich ein Potenzial an der Entblößung des Lebens lm Bild, das Freisetzung ist: Kino erfasst auch das, bewahrt und bringt auch das in Umlauf, was sich am machtvollen oder disziplinierten Subjekt regt, ohne intendiert, geplant, festgelegt zu sein. „Geste" nennt Giorgio Agamben die ereignishafte Eigendynamik von Bewegungen, die im Filmbild un(zu)gehörig an den Körpern hervortreten. Unter all den gerichteten Bewegungen, die das Bild des KKK-Menscben - des kaiserlichen, kolonialen oder klerikofaschistischen Normalmenschen - ausmachen, setzt Welt Spiegel Kino einige frei, die als Gesten ziellos und zweckfrei, kryptisch oder schlicht peinlich insistieren: Verlegenheitslachen beim Gefilmt-Werden; einen weißen Arzt, der so neckisch und beherzt mit indonesischen Geisteskranken tanzt und gestikuliert, dass er zu vergessen scheint, wie sehr das Filmbild Unterschiede zwischen ihm und seinen Patienten unlesbar macht und unversehens Les maîtres fous zeigt; die Übergabe eines Ordens samt Sektglas, Urkunde und Kranz durch Kolonialherr und -herrin an einen indonesischen Arbeiter, ein Ritual, bei dem Körper und Dinge sich zum schaudernmachenden Anblick verknoten, das koloniale Verkehrsformen entblößt, durchschaubar und völlig unansehnlich macht. Die Macht führt sich auf, Kino schaut zu und zeigt her, impertinent, vermessen.

Noch ein peinlicher Rückblick: Als seit 38 Jahren in Wien-Erdberg lebender Filmfreund kannte ich das Kinematograf Theater Erdberg, vor dem Welt Spiegel Kino beginnt, in meiner Kindheit unter dem Namen „Flohbude". Wo heute ein Wettcafé steht, habe ich auf der Leinwand (oder zumindest auf Plakaten) Äneas - Held aus Troja, Old Firehand, Erdbeben und Bud Spencer gesehen - Geschichtsmythologien, Kolonialklischees, Katastrophen und G‘nackwatschen, von denen Welt Spiegel Kino handelt.