Über die Wiener Episode von WELT SPIEGEL KINO
Michael Loebenstein, Österrreichisches Filmmuseum
Das Österreichische Filmmuseum ist eine Cinémathèque. Unsere Ausstellungen finden auf der Leinwand statt" heißt es auf einem Schild im Foyer eines Museums, das (bis auf einige wenige Plakate) keine Exponate präsentiert. Gustav Deutsch hat diesen Satz immer wieder im Rahmen seiner lectures zitiert; seine doppelte Bedeutung ist mir davor nie in diesem Ausmaß bewußt geworden. Beinhaltet er doch jene zwei Momente - die Präsentation (der und mit der die Bewahrung und Kanonisierung voran- beziehungsweise einhergeht) und das Verschwinden, die Flüchtigkeit zivilisatorischer Artefakte im Strom der Zeit - die bedeutsame Pole moderner Geschichtsauffassung wie zeitgenössischer medienarchivarischer Praxis darstellen.
„History happens". Mit dieser Feststellung leitet die Filmtheoretikerin Vivian Sobchack ihren (im Titel auf den Nachbildeffekt der Kinomaschine anspielenden) Band über das Verhältnis zwischen den audiovisuellen medien und historischem Gedächtnis ein[1]. Die große Leistung des Kinos bestünde, so Sobchack, in seinem Vermögen Vergangenes im Akt der (Kino-) Vorführung präsent zu machen, taktile Gegenwart dort herzustellen wo eigentlich alles von Verlust zeugt. Diese Beharrlichkeit (engl. persistence) des Kinematographen begreift sie als befreiendes Potential - der Kinogeher, die Kinogeherin, der moderne (westliche) Massenmensch entdeckt und erfindet sich qua Kinoapparat als aktives und reflexives historisches Subjekt.
„Film ist." heißt es nicht minder lapidar bei Gustav Deutsch. Als Materialist ist der Künstler beinahe „zwangsläufig" im Archiv angekommen: Nicht umsonst bezeichnet er Ken Jacobs readymade PERFECT FILM als einen seiner Lieblingsfilme. Jeder Deutschfilm (und WELT SPIEGEL KINO im besonderen) setzt ganz unmittelbar am Zeugnischarakter des gefundenen Films an um dann mittels Verfahren der Filmavantgarde (Zeitlupe, Schleifenkopierung, Überblendung und strukturelle Re-Montage) dessen virtuelle Potentiale freizulegen. Das einzelne Artefakt erfährt darin zum einen die Auszeichnung des besonderen (denn in jedem noch so marginalen Stück Film ist das Ganze des Kinos angelegt); zum anderen wird der einzelne Filmstreifen zum Ausgangspunkt einer Vielzahl möglicher Anschlüsse. Gleich den Hyperlinks in Deutsch/Schimeks interaktiver CD-Rom ODYSEE TODAY verweist jede Präsenz im Bild auf Kontexte außerhalb des Kaders: strukturelle Muster, Homologien, Kontinuitäten und Brüche, Mentalitätsgeschichte(n).
In der Wiener Episode von WELT SPIEGEL KINO wird ein Kino der Erdberger Vorstadt zum Nabel der Welt. Bezeichnenderweise firmierte jenes Kinematograf Theater, das sein stolzer Besitzer auf Nitrozellulose verewigen ließ im Laufe der 10er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch unter dem Namen Austriakino; das Österreich der (untergehenden) Monarchie begreift sich selbst im Schwung der Kreuzung zweier Ausfallsstraßen als jenes Gravitationszentrum, um welches sich die Weltgeschichte krümmt. Das Kino erzählt Zeitgeschichte (auch) als Einschreibung von Herrschaft in den Unterhaltungsapparat: Der greise Kaiser auf „Inspektionsreise", inmitten seiner Untertanen; ein schnauzbärtiger Passant, den die Montage gleich einer Zeitmaschine in die Isonzoschlacht von 1917 befördert dreht sich wie ein mechanisches Spielzeug vor der Kamera und reißt die Rechte zum zackigen Salut hoch. Wieder und wieder greift der Film in die Straßenszene ein, hält den Fluß der Zeit an, greift Gesichter, Posen, Typen heraus, um ein Bild von Wien als „Wien" der zeitgenössischen urbanen Zerstreuungskultur zu skizzieren. Die Masse, schreibt Walter Benjamin in den dreißiger Jahren, „versenkt" das Kunstwerk in sich. Sie begreift (im doppelten Wortsinne) das Laufbild ähnlich wie die Architektur der Städte als taktile Sensation. Im Gebrauch des Kinos durch den „infamen Menschen" kommt das Wien der „kleinen Menschen", der Arbeiter und Angestellten, Kindermädchen und Vorstadtbuben (deren „sittliche Verrohung" durch das Kino das Wiener Landesgericht schon vor dem Ersten Weltkrieg beklagte) zu seinem Recht: Der Art, wie sie im Anbruch der historischen Moderne die Boulevards und Plätze, die Amüsiermeilen des „Praters"zum Ausstellungsort ihrer sozialen Präsenz gemacht haben bevölkern sie im Kino Gustav Deutschs erneut die Öffentlichkeit. Unsere Ausstellungen finden auf der Leinwand statt: WELT SPIEGEL KINO gibt uns einen Eindruck vom Kino als Aufmarschort, als eskapistischem Fluchtpunkt und als Weltausstellung.
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[1] Vivian Sobchack: "Introduction: History Happens" in: dies (Hrsg.): The Persistence of History. Cinema, Television, and the Modern Event. New York, London 1996, S. 3 ff.