Michael Omasta
Der neue Film von Gustav Deutsch ist ein echter Kino-Film: Es geht um historische Filmaufnahmen von Kinos, um die Menschen, die diese Kinos besuchten - und um die Filme, die sie sahen. Im Interview erklärt der Wiener Avantgarde-Filmemacher, wie „Welt Spiegel Kino" funktioniert.
Gustav Deutsch macht seit Anfang der Achtzigerjahre Filme. Filme aus anderen Filmen, sogenannte Found-Footage-Filme. Schaut man sich deren Titel an, wird deutlich, dass sein Werk dem Projekt der Verdichtung, dem essenziell Filmischen verpflichtet ist. „Taschenkino", „Film spricht viele Sprachen", „Film ist mehr als Film", „Film ist." und schließlich: „Welt Spiegel Kino". Er „zerlegt uns die Welt", hat ein anderer Gustav, Ernst mit Nachname, einmal über ihn gesagt, „damit wir sie besser sehen können, und die herrschenden Bilder, damit wir besser sehen, was und wie durch sie gesehen wird".
Deutsch ist gebürtiger Wiener, Jahrgang 1952, hat Architektur studiert, stieß in den Siebzigerjahren zu den jungen Wilden von der Medienwerkstatt und fing mit Video zu experimentieren an, geriet in den Achtzigern an die umtriebige Künstlergruppe Der Blaue Kompressor, wurde in den Neunzigerjahren in den Vorstand des Avantgarde-Verleihs Sixpack Film gewählt und 2002, zusammen mit Hanna Schimek, seiner Lebenspartnerin und künstlerischen Weggefährtin, Leiter der Aegina Akademie, eines interdisziplinären europaweiten Kulturprojekts. Sein neuer Film, „Welt Spiegel Kino", wurde vor zwei Monaten in Rotterdam uraufgeführt, avancierte dort überraschend zum absoluten Liebling des Festivalpublikums und seither zu einem wahren Avantgarde-Blockbuster.
Falter: Ihre letzte Arbeit, „Film ist." war ein Versuch, das Wesen des Films zu definieren, wenn man so will: verfilmte Filmtheorie. Ich habe den Eindruck, dass Sie mit „Welt Spiegel Kino "jetzt so richtig beim Filmemachen, beim Kino angelangt sind.
Gustav Deutsch: Für mich war „Film ist." natürlich auch schon Kino. Aber er ist ein Lehrstück. Man kann damit unterrichten. Mit „Welt Spiegel Kino" kann man auch unterrichten, nur braucht man schärfere Augen. „Film ist." hat eine sehr klare Struktur, die Themen sind viel puristischer strukturiert. In dem neuen Film ist alles mehr in die Erzählung verwoben. Was mich daran gereizt hat, war, mit den Mechanismen des Films, mit der Erfindung von fiktionaler Realität zu spielen.
Es ist sicher kein Zufall, dass diese erfundene Realität nicht erst im Kino beginnt, sondern auf der Straße davor.
Das war ja das Interessante für mich. Diese drei Filme, die Ausgangspunkt meines Films sind, waren Auftragsarbeiten von Kinobesitzern, die diese später dann auch in ihren Kinos gezeigt haben. Folge war, dass sich die Leute, die sich vorm Kino vor der Kamera produziert haben, irgendwann selbst wieder im Kino angeschaut haben. Sie sind quasi zu Menschen des Kinos geworden.
Gleich die erste Szene vor dem Kinematograf in Erdberg schaut doch aber nicht wie eine Auftragsarbeit aus, sondern mehr wie Schulende oder irgendeine Feiertagsprozession!
Doch, das ist ein Auftragsifim vom Besitzer des Kinematograf Theater anno 1912, und der Herr ist auch selbst im Bild. Er ist zwar keiner der Protagonisten, auf die ich einzoome, aber sein Kindermädchen ist es. Die hab ich erst, nachdem ich den Film schon dreißig Mal gesehen hatte, in der Menschenrnenge entdeckt. Ich hab sie über haupt nur erkannt, weil der Kinobesitzer anschließend, um den Film auszuschießen, im Stadtpark noch seine Familie hat filmen lassen - da hält das Kindermädchen dann sein Baby im Arm.
Wo war dieses Kino?
Ecke Schlachthausgasse/Erdbergstraße. Im Prinzip ist das ganze städtische Ambiente noch das Gleiche. Man sieht im Hintergrund die Gasometer und auch das Haus, in dem das Kino war, steht noch. Jetzt ist da ein Café drin, aber bis in die Sechziger hat es das gegeben. Angeblich ist das Kinematograf Theater in den Zwanzigern auch als Austria Kino geführt worden, dann hat es Erdberger Tonkino geheißen und am Schluss halt Erdberger Kino.
Gut, ein Film über ein Kino in Erdberg, das versteht man als Wiener ja noch, aber wie sind Sie zum Beispiel auf die Szene vor dem Apollo Kino in Surabaya gestoßen?
Damit hat das ganze Projekt überhaupt angefangen. Während der Recherche zu „Film ist." hab ich im Niederländischen Filmmuseum einen Film gefunden, der heißt „Der Straßenverkehr von Surabaya". Der ist von 1929 und wurde interessanterweise nicht von Holländern gedreht, sondern von einer in Surabaya ansässigen Crew, die dort ein eigenes Foto- und Filmstudio gehabt hat.
Kein kolonialer Film also, sondern einer, der erst später, vom Filmmuseum, kolonialisiert wurde.
Das schon, aber es ist nicht bekannt, wofür er gemacht wurde. Jedenfalls nicht in erster Linie, um ethnografisches Dokumentationsmaterial nach Holland zu liefern, wie so viele andere Filme. Es ist mehr ein Stadtporträt. Darin taucht ein fantastischer Schwenk um 180 Grad auf, und genau in der Mitte, vis-a-vis der Kamera, ist das Apollo Theater, in dem es gerade „Die Nibelungen" von Fritz Lang spielt. Das hat mich vom Kontext her sehr frappiert. Surabaya war zu der Zeit, kurz vor Ende der holländischen Kolonialmacht und der Besetzung durch die Japaner, eine hochindustrialisierte Stadt, und dann lief im Kino eben Lang, der deutsche Film überhaupt, ein Vorfilm des Nationalsozialismus - wie ist der rezipiert worden damals, wie haben die Leute den gesehen?
Ist das auch die Erklärung für den markanten Schnitt von dem Lang-Film zu einem indonesischen Drachenumzug?
Für mich war der Moment, in dem Siegfried den Drachen blendet, einfach die Chance, von Drache zu Drache umzusteigen und so eine Verbindung zwischen dem Film und dem Ort herzustellen. Leicht möglich, dass Siegfrieds Kampf mit dem Drachen von Leuten in Surabaya mit dem Befreiungskampf von Indonesien gegen die holländische Kolonialmacht assoziiert wurde.
Sie haben sich immer schon große Freiheiten erlaubt, Material künstle risch eingesetzt. Wo haben Sie sich bei „Welt Spiegel Kino" da selbst auch Grenzen gesetzt?
Ich habe mir drei Möglichkeiten offen gehalten. Das eine ist, in der Zeit und im Ort zu bleiben, möglichst nahe an den Figuren also. Das Zweite sind Sprünge in die Zukunft oder Vergangenheit, also zu etwas, das diese Personen vielleicht erlebt haben oder noch erleben werden. Und die dritte Option ist der Traum, die Fantasievorstellung einer Person, die gern „wer sein möchte" - so wie der Bub vor dem Kino in Erdberg, der zum Eisenbieger vom Prater wird. Es war mir sehr wichtig, dass es mehr Möglichkeiten der Assoziation gibt als nur zu sagen: Na, die schauen sich ja echt ähnlich.
Wie lange sucht man da?
In den Archiven gesichtet haben wir nur drei Wochen, Natürlich bin ich auf die Zusammenarbeit der Archivleute sehr angewiesen, aber sobald die begreifen, wonach ich suche, funktioniert das meist tadellos. Ich hab verschiedene Archive angeschrieben, ob sie Aufnahmen aus den Zehner- und Zwanzigerjahren haben, in denen man ein Kino sieht, wo man sieht, was es spielt, und ob der Film, den es dort gespielt hat, auch noch verfügbar ist. Die größte Schwierigkeit dabei ist, dass man so einen Suchbegriff nicht einfach in den Computer eingeben kann. Dass in diesem oder jenem Schwenk ein Kino zu sehen ist, taucht ja nirgends als Schlagwort auf, sondern der Film ist verortet unter: Porto, Straßenszene. Das ist ein Stadtporträt und der Schwenk an dem Kino vorbei nur eine Einstellung. Da gibt‘s in dem Film noch 15 andere, die „wichtiger" sind. Sehr viel ist mit Zufall verbunden, der jeder Archivarbeit inhärent ist. Weil genau so findet man „Filmgeschichte" in Filmarchiven auch: durcheinander, zusammenhanglos, aber doch irgendwie lose miteinander verbunden.
Das klingt, als spielte das Kino im Film der Zehner- und Zwanzi gerjahre nur eine marginale Rolle. Man sollte meinen, es gibt eh sicher 2000 Filme aus dieser Zeit, in denen Kinos zu sehen sind.
Nein, es gibt keine 2000 Filme. Von den Zehnerjahren weiß ich, was Wien betrifft, alle Kinos, und das sind gar nicht viele. Außer dem Kinematograf gibt es noch eine Szene vom ersten Kino in Wien überhaupt, dem Lumière-Kino in der Kärntner Straße; wobei man nur ein Hinweisschild sieht, nicht aber das Kino selbst, weil das ja ums Eck in der Krugerstraße war. Und es soll noch eine dritte Szene geben, nämlich in einem Film, wo eine Straßenbahn durch Wien und, angeblich, an einem Kino vorbei fährt - nur hab ich das bis heute nicht entdeckt.
Worauf führen Sie diese Unterrepräsentation zurück? Kino war seinerzeit doch etwas Spektakuläres, auch im Prater hat es mehrere gegeben.
Fotos gibt‘s. Die kennt man auch, vom Buschkino zum Beispiel, aber es gibt keine Filmdokumente. Allerdings waren um 1910 herum die Kinos selbst ja nur selten so spektakulär. Die meisten haben ausgeschaut wie irgendein anderes x-beliebiges Geschäft.
Es fällt auf dass Sie keinerlei Unterscheidung zwischen Dokumentar und Spielfilmen treffen. Entspricht das Ihrer persönlichen Sicht - das Kino als Spiegel der Welt?
Ich sehe diesen Unterschied da einfach nicht. Für die Wien-Sequenz hab ich zum Beispiel einen Ausschnitt aus „Das Kinderelend in Wien" verwendet, das war ein Propagandafilm der Sozialistischen Partei von 1919, der dafür plädiert, die Kinder von der Straße zu holen, um sie nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Da gibt es Spielszenen drinnen, wie ein paar Buben ihre Streiche vollführen und dann halt von der Polizei aufgegriffen werden. Für mich zeichnet sich der Film aber dadurch aus, dass er in manchen Einstellungen, wenn die Protagonisten aus dem Bild rennen, auf einmal zu einem reinen Dokumentarfilm wird. Dann sind Leute zu sehen, die mit dem Inhalt nichts zu tun haben, sondern einfach vorbeigehen. Und diese Vermischung zwischen Fiktion und Realität, vor allem in Filmen der Zehnerjahre, verblüfft mich immer wieder. Warum soll ein Ausschnitt wie der mit den beiden Buben nicht als Dokument gelten? Der ganze Film ist ein Dokument - der Zeit, des Ortes, der Leute, die dort gelebt haben. Für mich sind diese Filme viel interessanter als, zum Beispiel, ein Film aus den Zehnerjahren, für den man einen Töpfer bei der Arbeit gefilmt hat. Den hab ich nicht genommen, weil er nichts vom Bild hergibt und kaum etwas von der Zeit erzählt.
Die unheimlichste Szene des Films stammt gleichfalls aus dem Wien-Teil. Unheimlich deshalb, weil Fiktion und Realität in der bewussten Szene zwar von der Materialität her klar unterscheidbar sind, nicht aber vom Inhalt. Was sind das für zwei Filmausschnitte?
Das eine ist ein Stück aus dem Film, der damals im Kinematograf gelaufen ist, „Die schwarze Kappe", ein dänischer Sherlock-Holmes-Film, von dem noch ganze acht Minuten existieren. Der heißt so, weil die vier Hauptfiguren darin mit schwarzen Kapuzen auftauchen und in einer der Szenen, die erhalten sind, gerade einen Mann in ein Haus verschleppen und fesseln. Das hab ich quergeschnitten mit einer Szene aus einem österreichischen Dokumentarfilm von Rudolf Pöch, der einer der allerersten ethnograflschen Filmemacher war und unter anderem auch ein sehr bekanntes Dokument, „Buschmann spricht in den Phonographen", gedreht hat, Während des Ersten Weltkriegs hat Pöch in einem österreichischen Kriegsgefangenenlager russische Kriegsgefangene gefilmt - in der Hauptsache bei der Ausübung verschiedener Tätigkeiten wie Tanzen und Schnitzen, aber eben auch diese Szene, in der österreichische Ärzte einem gefangengenommenen Kirgisen einen Gipskopfabdruck abnehmen. Und das Interessante dabei ist, dass die beiden Ärzte weiße Kapuzen tragen, sich also genauso wenig zu erkennen geben wie die schwarzen Kappen in dem Sherlock-Holmes-Film. Ich hab keine Ahnung, warum sie das gemacht haben. Vielleicht war‘s für Arzte eine verpönte Sache, so etwas mit Kriegsgefangenen zu machen. Die könnten genauso gut aus einem Theaterstück sein.
WELT SPIEGEL KINO
Fantasie des Unmöglichen
„Welt Spiegel Kino" ist ein technisch aufwendiges work in progress, das sich in drei gefundene Filmdokumente aus den Zehner- und Zwanzigerjahren vertieft, um seine eigene Fiktion zu schaffen und Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Realität der Straße und der des Kinos anzustellen. Ausgangspunkt sind drei Filmszenen, die in Wien, Surabaya und Porto aufgenommen wurden und jeweils Leute vor einem Kino zeigen. Im Kinematograf Theater in Wien-Erdberg läuft „Die schwarze Kappe" (1911), ein dänischer Sherlock-Holmes-Film, im Apollo Theater in Surabaya wird „Die Nibelungen" (1923) von Fritz Lang gezeigt und im Kino von Porto „Jose do Telhado" (1929), ein Nationalepos um einen portugiesischen Bauernführer.
Mehr als diese Filme interessieren Gustav Deutsch jedoch die Leute, die sich auf der Straße vor dem jeweiligen Kino angesammelt haben. Er zoomt in die Bilder, holt sich einzelne Personen aus der Menge und macht sie zu „Menschen des Kinos", indem er mithilfe anderen zeitgenössischen Filmmaterials deren - mögliche - Biografien weiterspinnt: Ein frecher Lausbub wird zum Eisenbieger im Wurstelprater, ein vor der Kamera freundlich den Hut ziehender Herr findet sich flugs als Soldat im Ersten Weltkrieg wieder, eine der Kinobesucherinnen aus Portugal arbeitet die Woche über in einer Sardinenfabrik.
„Welt Spiegel Kino", schreibt Tom Gunning, amerikanischer Filmhistoriker und Spezialist für frühes Kino, „beschränkt sich nicht auf das Staunen über diese vergessenen Bilder aus einem jetzt fernen Alltag. In der Struktur dieses Films werden Bilder in einer Textur der Fantasie des Unmöglichen verwoben, einer Vision eines Kinos ohne Endlichkeit, das neue Bilder durch die Oberfläche anderer Bilder wachsen lässt." Ergebnis ist eine faszinierende Reflexion über das Kino und seine Doppelfunktion als Zeit- und Wunschmaschine, in der Siegfried und die Drachen von Java, die Sardinenarbeiterin und die Salazar-Faschisten miteinander ins Reden kommen wie die Avantgarde und das frühe Kino.