Shirley - Visions of Reality
von Gunther Baumann
Die Story: 13 Gemälde von Edward Hopper bilden die Kulisse für ein faszinierendes Film-Essay. Der Wiener Regisseur Gustav Deutsch schuf mit „Shirley – Visions of Reality“ den Kunst-Film des Jahres. Er schickt Titelfigur Shirley (Stephanie Cumming) auf eine Kunst- und Zeitreise durch die USA der Dreißiger bis Sechziger Jahre.
Die Stars: sind in diesem Fall natürlich die Kulissen, die den berühmten Bildern von Edward Hopper nachgebaut wurden. Stephanie Cumming, ausgebildete Tänzerin, ist als Shirley mit nobler Grazie und sehenswertem Spiel eine perfekte Reiseführerin durch den Film.
Kurzkritik: Regisseur Gustav Deutsch, dessen Wurzeln im Experimentalfilm liegen, hat die Werke des Mainstream-Künstlers Hopper zur Basis für ein betörend schönes und fesselndes Film-Feuilleton genommen. Man schwelgt in großer Kunst, wird aber auch über Politik und Musik der besuchten Jahrzehnte unterrichtet.
Ideal für: Filmfreunde und Kunstfreunde. Das Wiener Künstlerhaus lädt übrigens zum doppelten „Shirley“-Erlebnis: Parallel zum Film, der dort im Stadtkino zu sehen ist, läuft die Ausstellung „Visions of Reality“ mit Sets aus dem Film.
FilmClicks Kritik. Der Film sieht aus wie gemalt. Das mag daran liegen, dass die Bilder aussehen wie gefilmt: Avantgarde-Regisseur Gustav Deutsch darf sich rühmen, den aufregendsten Brückenschlag zwischen (bildender) Kunst und Kino seit Jahren realisiert zu haben.
Brückenpfeiler Nummer eins: Die Gemälde von Edward Hopper (1882 – 1967). Seine Impressionen von Weite, Licht und Einsamkeit machten den New Yorker zu einem der populärsten Künstler des 20. Jahrhunderts.
Brückenpfeiler Nummer zwei: Die Bilderwelt des Kinos. Gustav Deutschs Partnerin Hanna Schimek schuf dreidimensionale Visualisierungen von 13 Hopper-Bildern, in denen die Spielhandlung abläuft.
Die Brückenläuferin: Shirley. Weil auf vielen Bildern Hoppers Frauen im Zentrum stehen, erfand der Regisseur eine Frau als Zentralfigur für den Film. Diese Shirley, glanzvoll gespielt von der Wiener Kanadierin Stephanie Cumming, nimmt den Zuschauer mit auf eine Zeitreise. Das erste Gemälde entstand 1931 – Amerika steckte noch tief in der Depression. Das jüngste stammt von 1963 – Martin Luther King hielt seine berühmte Rede „I have a dream“.
So umfassen die Visionen der Realität drei Jahrzehnte amerikanischer (Kunst-)Geschichte. Erzählt aus dem Blickwinkel einer Frau, die wenig Bereitschaft zeigte, sich in die patriarchalisch geprägte Welt jener Dekaden einzuordnen. Shirley, so erfährt man bald, ist eine sehr eigenwillige Person. Sie ist eine Schauspielerin, die nicht nach der großen Karriere strebt, sondern danach, mit ihrer Kunst etwas zu bewirken.
Möglicherweise hätte sie ja das Zeug zu einer Hollywood-Laufbahn. Doch sie will nicht um jeden Preis dorthin. In einer der eindrucksvollsten Szenen des Film erlebt man Shirley als Platzanweiserin in einem Kino: Arm, fern jedes Glamours, aber autark und kompromisslos unkompromittiert.
Den Film anzuschauen, ist ein Kunstgenuss der besonderen Art. Die fast unbewegliche Kamera (Jerzy Palacz) wählt die Perspektive eines Ausstellungsbesuchers. Wenn sich Shirley innerhalb des von Edward Hopper gemalten Bildes bewegt, können wir ihr dabei zuschauen. Geht sie hinaus, können wir sie nur noch hören. Die Kamera folgt ihr nicht. So ist „Shirley – Visions of Reality“ auch eine Mischung aus Spielfilm und Hörspiel. Doch während man zuhört, kann man sich gleichzeitig in die Details der nun kurzfristig menschenleeren Bildkomposition von Hopper vertiefen. Das ergibt eine völlig neue Art, einen Film zu… ja, was nun? Zu sehen? Zu hören? Zu konsumieren? Da ist Multi Tasking gefragt. Sensationell.
Gustav Deutsch gibt dem Film eine klare Struktur, indem er jedes neue Bild mit Nachrichten-Meldungen aus dessen Entstehungsjahr einführt. Er wählte einen Soundtrack zwischen Swing, Rock’n’Roll und Dylan aus, der ebenfalls und opulent die Zeit dokumentiert. Und er setzt neben Hauptdarstellerin Stephanie Cumming auch die anderen Schauspieler (Christoph Bach, Florentin Groll und Elfriede Irall) kunstvoll in Szene. Das Resultat ist ein betörender Film, der mit vielen Kino-Gewohnheiten bricht und zugleich ganz großes Kino bietet.