Claus Philipp
Bearbeitungen von Found Footage zeitigen gegenwärtig meist entweder Pointen (nicht selten denunziativ gegen den Urheber des Originalmaterials gerichtet) oder poetische Verfremdungseffekte. In beiden Fällen sind die Ersturheber jemand, über den sich die Autoren erheben, ironisch, belehrend oder kritisch. Die Endprodukte sagen aus den Höhen heraus, die dabei tatsächlich oder vorgeblich erreicht werden, nur noch etwas über ihre Recycler aus.
Gustav Deutsch hat schon mehrmals vorgeführt, wie mit Fundstücken auch nüchterne Forschung – natürlich, so wie in jeder Archäologie – betrieben werden kann. Er zeigt immer wieder, wie gerade aus strengen Regeln und Vorgaben heraus so etwas wie ein Respekt zum Tragen kommen, ein Freiraum im Laboratorium gewissermaßen entstehen kann, in dem neben neu ermöglichten Lesarten noch jene des Originals mitschwingen. Selbst wenn Deutsch, wie etwa in dem kinematographischen Traktat über Urlaubsfilme, Adria, geradezu entlang von Paragraphen seine Segmentierungen und Montagen offenlegt, atmen seine Arbeiten noch immer mit einem humorvollen Unterton, der sich nicht wichtiger nimmt als die „Amateure“, deren Bildmotive er verwendet, doch nie mißbraucht. Deutsch involviert sich nicht mit identifikatorischer Besessenheit in diese home movies. Er gewinnt interpretatorische Schärfe und einen Reichtum an Lesemöglichkeiten aus höflicher, konzentrierter Distanz.
Privatmaterialien aus den Jahren 1953 bis 56 läßt er nun also in no comment – minimundus AUSTRIA zum Schauplatz einer denkwürdigen Kollision zweier Systeme von Nachrichten- und Identitätsvermittlung werden. Über eine Distanz von mehr als vierzig Jahren hinweg rasen zwei Schemata, zwei Stil-Blüten aufeinander zu. Die gute alte Schwarzweiß-Kino-Wochenschau begegnet Seitenschienen der Kabel-Euro News, in denen unter dem Logo „no comment“ fast beschauliche Impressionen von allen erdenklichen Weltschauplätzen und Krisenherden für sich stehen. In beiden Fällen, der Wochenschau wie auch der unkommentierten Nachrichten, handelt es sich um Seitenschienen, in die besonders gut Werbung plaziert werden kann. In beiden Fällen behaupten die Produzenten eine Weltgewandtheit, die bei keinem Ereignis außen vor bleiben muß. In beiden Fällen sind, wo die Bilder zunächst einmal austauschbar erscheinen (was bestimmt die jeweilige Zusammenstellung der Sendungen?), der Einsatz der Tonebene und Inserts (bzw. der über sie vermittelten Stimmungen und Informationen) ausschlaggebend: bei Wochenschauen wird nicht ungern stummes Material mit reißerischer Moderation und beschwingter Musik synchronisiert; bei „Euro News“ soll der perfekte Originalton wohl mehr sagen als 1000 Worte.
Auch Deutsch synchronisiert: Das heißt, er unterlegt zuerst einen für Experimentalfilme ungewöhnlich opulenten Vorspann (den Wochenschauteil) mit Fragmenten der obligaten Optimismus-Scores. Ein kleines Mädchen tritt hinter dem Triumphbogen der Kärntner Erlebniswelt Minimundus, in der Weltwahrzeichen in Miniaturform präsentiert werden, hervor. Mit diesem einzigen Schritt sind die Relationen bereits verschoben, so wie wenig später zwischen Orchesterklängen und Modellzügen, die um die Wette fahren. In weiterer Folge vertont Deutsch dann das stumme Material mit passenden Geräuschen, pervertiert also den Duktus der no comment Clips, indem er eine Fälschung natürlicher Authentizität vorlegt.
Badefreuden, Reisebilder, Schützenfeste: Hat man da noch Töne? Deutsch hat sie für all diese Mitbringsel vergangener Freizeitgenüsse, angesichts derer man sich fragt, ob die Österreicher der neugeborenen Zweiten Republik nichts anderes zu tun hatten, als sonnige Gemüter zu demonstrieren. Der wahnwitzigste Moment in diesem Film aber ist ein Blick auf eine menschenleere Bergwiese, zu dem im Off die morgendlichen Archivvogelstimmen zwitschern. Und dieser Blick wird erst recht bizarr, weil er – wie alle anderen – gemäß der Euro News-Praxis von drei Logos eingerahmt wird. Links oben ein Ort und ein Datum, das, wie Deutsch gerne zugibt, frei erfunden ist. Links unten ein „no comment“, das in dieser Dauerhaftigkeit etwas von Krisenhaftigkeit in sich trägt: Politiker Soundso kann in dieser Situation noch keinen Kommentar abgeben. Rechts unten „minimundus AUSTRIA“: Ein Logo. Ein Sendeschema.
Apropos „klein“, „Welt“ und „Euro“: 1976 sang das oberösterreichische Schlager-Duo Waterloo & Robinson (zu österreichisch: Der Kriegsverlierer und der Insel-der-Seeligen-Mensch) beim Eurovisionssongcontest folgende Liedzeilen: „Das ist meine kleine Welt / sie ist frei und ohne Sorgen / und in dieser kleinen Welt / fühle ich mich sehr geborgen.“ Vielleicht hieß es auch: „...gibt es kein Heute und kein Morgen.“ Der 5. Platz, den sie mit ihrem Song für Österreich nach Hause holten, wurde in den Medien gefeiert wie eine historische Großtat. no comment – minimundus AUSTRIA ist in seiner beiläufigen Art ein Film, der solche Assoziationen zuläßt, aber nicht provoziert. Auch die Vorstellung etwa, eine ganze Fernsehnacht könnte mit derartigen Bildern zu einer space night der nationalen Art werden, löst höchst produktives Unbehagen aus.