GUSTAV DEUTSCH

Bibliografie thematisch

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GUSTAV DEUTSCH

Bibliografie thematisch

Tom Gunning

1. Was ist Kino? ... Film Ist.

Der Film hat eine antagonistische Beziehung zur Theorie; dies geht über die gewöhnliche Opposition von Theorie und Praxis oder auch jene zwischen Worten und Bildern hinaus. Es betrifft den Kern dessen, was das Kino ausmacht sowie die Schwierigkeit, es zu definieren. Wir könnten sagen, dass Kino sei per definitionem undefinierbar (außer auf die unwesentlichste denotative Weise). Wie André Bazin verstanden hatte (bzw. seine Herausgeber, die seinen gesammelten Aufsätzen jenen Titel verliehen), ist es die Aufgabe der Filmtheorie, unablässig zu fragen: „Was ist Kino?" und eine fortwährende Wandlung der Antworten auf diese Frage zuzulassen. Während die erste Generation von Filmtheoretikern dazu bereit war, die Identität des Kinos einem einzigen Aspekt zuzuschreiben (wie zum Beispiel Eisensteins Identifikation des Kinos mit der Montage oder Hugo Münsterbergs Verständnis des Films als Bild des Bewußtseins), bemerkt jede sorgfältige Lektüre dieser Pioniere, wie diese scheinbaren engen Definitionen sich auszudehnen beginnen, so dass etwa die Gesetze der Montage mit den Gesetzen jeder Repräsentation übereinstimmen oder Bewußtsein die Wirklichkeit von Landschaften ebenso in sich aufnimmt wie Erinnerung oder Vorstellung. Mit anderen Worten wird der Film zu einer Weise, das Bewußtsein zu verstehen oder die Gesetze der Gegenüberstellung, und es geht nicht darum, eine abgegrenzte Bedeutung zu finden.

Wenn wir also wiederholt darauf stoßen, dass Theoretiker eine spezielle Beziehung zwischen dem Film und anderen Dingen beschreiben („Affinitäten", wie Kracauer das nannte), scheint der gemeinsame Nenner dieser Affinitäten in ihren unfaßbaren, sich ständig wandelnden und ungebundenen Qualitäten zu liegen. Ursprünglich hatte ich Deutschs Titel als einen Akt der Prädikation verstanden: „Film ist...", gefolgt von einer Reihe möglicher, nicht-ausschließender Definitionen: ein Instrument; Material; Magie; Eroberung etc. Allerdings wies er mich dann auf die Macht des Punktes nach dem „ist" hin. Der Titel ist keine unvollständige Definition, sondern eine vollständige reflexive Behauptung: „Film ist." Man könnte sie, nach Gertrude Stein, zirkulär auffassen: „Film ist Film ist Film ist Film". Aber „Film ist." ist besser. Der Film kann nicht definiert werden, weil seine Begrenzungen jene der Existenz selbst sind. Die Begriffe, die auf den Titel folgen sind, wie mir klar wurde, nicht einmal als auch nur mögliche Definitionen gemeint noch als Subkategorien der Existenz des Films. Vielmehr artikuliert jeder eine Wahrnehmung, eine Facette von der ständigen Metamorphose des Films, seiner Zurschaustellungen des geheimen Lebens der Existenz selbst. So wird die Reihe filmischer Affinitäten vielfältig und transitorisch. Kein einziger Begriff kann diesen Raum für längere Zeit alleine besetzen. Film hat eine tiefe Affinität zur Serie - formal, theoretisch und auch historisch. Die Filmgeschichte mag zwar zu einem Ende kommen, die Theorie des Films wird dennoch eine andauernde Geschichte sein, immer wird es ein „Fortsetzung folgt" geben.

2. Wort und Bild: den Punkt machen.

Filmtheorie wurde im Allgemeinen in Worten und Sätzen ausgedrückt, mit sprachlichen Argumenten und Beweisen. Dies ist keinesfalls abzustreiten, aber es kann dennoch nicht schaden, darüber nachzudenken. Jede bedeutende Filmtheorie war eigentlich immer auch ein Dialog mit Bildern. Für die Theoretiker der 1920er Jahre - Eisenstein, Vertov, Kuleschow, Pudovkin - und die Filmemacher/Autoren der 1960er und 70er Jahre - Brakhage, Kubelka, Frampton, Godard, Pasolini et al. - waren theoretische Definitionen oder Diskussionen ein Teil ihrer Anstrengungen mit ihren eigenen Filmen. An Schlüsselpunkten der Filmgeschichte sind Filmtheoretiker aufgetreten, deren Schriften deutlich ihre Versuche widerspiegelten, mit den Filmen, die sie sahen, zu Rande zu kommen (Vachel Lindsay und Münsterberg in den 1910er Jahren; Bazin in der Nachkriegsära; Sitney in den 1970er Jahren). Worte ermöglichen einen Zugriff auf Bilder und Bilder eine Befreiung von den Wörtern. Dieses Hin und Her ist wesentlich, und keiner der beiden Aspekte sollte isoliert werden, als wäre er etwas Reines oder Absolutes.
Worte können Bilder aber auch ersetzen und - anstatt sich auf ihre Herausforderung einzulassen - ihr schlüpfriges Wesen meiden durch ein sich selbst erhaltendes System, in das kein wirklicher Film je einzudringen braucht. Wenngleich solche Sprachspiele eine gewisse monomanische Faszination in sich bergen und sogar eine perverse Macht, muß eine solche zunehmende Entfernung von den Filmen, die angeblich erfaßt und erklärt werden sollen, Besorgnis erregen. Film Ist. kann als die erste Filmtheorie bezeichnet werden, die zur Gänze aus Film gemacht ist. Viele große Filme haben eine theoretische Dimension, und ein Aspekt der Avantgarde liegt in ihrer Fähigkeit, theoretische Fragen bei ihren ZuschauerInnen hervorzurufen. Aber Film Ist. unterhält eine direkte - wenn auch antithetische - Beziehung zum Definitionsversuch der Theorie, der dem Film auch den Titel gibt. Während Deutschs Film die Balance von Wort und Bild in der Filmtheorie wiederherstellt, indem er uns viele Bilder und nur wenige Worte liefert, scheint er dennoch nicht auf die Macht der Sprache zu verzichten. Indem er den Gebrauch von Sprache auf einige wenige einfache Sätze reduziert, macht Film Ist. die Beziehung von Sprache und Bild umso klarer.
Jedes Wort der (bislang) 12 Titel könnte eine lakonische Definition des Films darstellen. Dem Titel folgen bewegte Bilder, die den genannten Begriff weniger zu illustrieren scheinen, als dass sie von ihm ausgelöst werden. So sehen wir etwa nicht bloß Beispiele für „Licht und Dunkelheit", sondern wir sehen, wie dieser lexikalische Eintrag konkret wird, transformiert wird, eine Metamorphose durchläuft, wieder konkret und dann abstrakt wird und seine Bedeutung ändert. Jeder betitelte Abschnitt demonstriert sowohl die Macht des Benennens eines kinematographischen Elements als auch die Unangemessenheit dieses Vorganges. Was uns hier vorgeführt wird, ist keine Demonstration der Kategorisierung, sondern die Macht von Namen - wie ein ausgestreckter Zeigefinger - auf Aspekte unserer Wahrnehmung von Filmen hinzudeuten und damit unsere Sehweise dieser Bilder zu transformieren. Die Beziehung zwischen Wörtern und Bildern überschreitet nicht nur jeden Versuch einer Definition, sie stürzt die Definition um - zugunsten eines Abenteuers der Wahrnehmung, eines Filmschauens als endloser Entdeckung.

3. Das Lexikon und das Narrativ

In den 1960er Jahren schien Christian Metz - indem er das Kino ins Feld der Semiologie und der Wissenschaft der Zeichen hineinzog - die Filmtheorie von einer Auseinandersetzung mit Bildern zu entfernen und in ein geschlossenes System zu überführen. Man muß aber auch sein sicheres Bewußtsein vom Unterschied zwischen Filmen und der Verbalsprache berücksichtigen. Ein Wort bildet einen Teil des gesamten Sprachsystems; es nimmt eine Stelle in einem Lexikon ein. Kein Bild spielt je eine solche systematische Rolle: Es gibt kein System aller existierender Bilder, in das jedes Bild in einer signifikanten Opposition zu allen anderen Bildern eingefügt werden könnte. Das Bild -und besonders das bewegte Bild - verhält sich nach Metz eher wie ein Satz denn wie ein Eintrag in einem Lexikon. Metz verstand demnach den grundlegenden Unterschied zwischen Wort und Filmbild.
Die Inspiration aber, die FilmemacherInnen von der Sprache bezogen, lag teilweise in der Befähigung, Bilder scheinbar wie Elemente einer Sprache funktionieren zu lassen, das Gewicht von Sinn und Metapher anzunehmen und scheinbar auf eine einzige Bedeutung zu verweisen. Das Vergnügen dieses Spiels hing an der Tatsache, dass Filmbilder die Bedeutung, die sie transportierten, immer überschritten. Deutschs Film zeigt das sehr schön. Die Titel funktionieren scheinbar wie Lexikoneinträge und jedes der Filmstückchen, die er zusammengetragen hat, dient als visuelles Synonym zu „Licht und Dunkelheit" oder „Bewegung und Zeit". Wenn allerdings die Abstraktion von Zeit und Bewegung die Flügel eines Vogels im Flug durchstreicht, stößt das Bild auch die Denotation ab, mit dem ganzen körperlichen Überfluß, den es zeigt. Deutschs Film ist so immer komisch, frisch, überraschend und nicht didaktisch. Auch wenn er sich mit Bildern aus Filmen beschäftigt, die für pädagogische Zwecke gedacht waren (wie in den meisten Filmen der Kapitel 1-6), erscheinen die eingezwängten Kompositionen und das Demonstrationslabor selber eher absurd als bedeutungsvoll. Anstatt, wie die kleinen Illustrationen in vielen Lexika, eine Definition zu veranschaulichen, verflechten diese bewegten Bilder die Worte zu unvorhergesehenen Konfigurationen. Die Begriffe des Titels bilden weiterhin einen Leitfaden, aber die bewegten Bilder erzeugen ein verschlungenes Labyrinth.
So wird auch eine Spannung aufgebaut zwischen der Aneinanderreihung der Einstellungen und der diskontinuierlichen Folge der Kapitel. Wir verstehen, dass wir diese Einstellungen so lesen sollen, als ob sie vertikal aufgelistet wären und jede ein neues Beispiel oder Synonym liefert. Wir betrachten Paradigma und konstruieren keine Syntagmen. Diese diskontinuierliche Liste widersetzt sich der üblichen linearen Betrachtungsweise von Filmen, in der wir nach einer Reihenfolge sich entfaltender Ereignisse suchen, so dass jedes mit dem nächsten verbunden ist. Film Ist. widersteht dieser Lesegewohnheit und scheint immer wieder von Neuem zu beginnen, indem er uns jede Einstellung als einen neuen Fall erfahren läßt. Aber tun wir das auch? Unausweichlich beginnt sich eine parasitäre Reihenfolge zu behaupten und ein phantomhaftes horizontales Narrativ durch diese scheinbaren nicht-narrativen Listen hindurchzuscheinen. Besonders in den Kapiteln 7-12 setzt Deutsch Folgen von Einstellungen, deren paradoxale Beziehungen eine narrative Logik zugleich herstellen und auflösen. (Das passiert besonders und mit viel Witz in Kapitel 10, in einem Abschnitt, in dem anscheinend alle die falsche Post erhalten haben, was komische wie tragische Folgen nach sich zieht.)
Scheinbar gibt es beim Film ein Prinzip, welches wir in Beziehung zum physikalischen Prinzip der Oberflächenspannung bringen können, nach dem die Energie und die Bedeutung einer Einstellung sich stets in angrenzende Einstellungen überträgt. Dieses Prinzip bildet die Grundlage des „Kuleschow-Effekts", wonach jede Einstellung seine Bedeutung durch Gegenüberstellung erhält. Wie in einem Laborexperiment spielt Film Ist. mit diesem Prinzip; der Film demonstriert und unterläuft es zugleich, indem er es an- und abstellt. Besonders im zweiten Teil dieses Films (Kapitel 7-12) sehen wir so nicht nur das Prinzip der freien Assoziation, praktiziert auf der Höhe des Surrealismus, sondern wir erkennen auch die Macht von isolierten Einstellungen, die - ihrem Zusammenhang entrissen - wie amputierte Glieder zucken und ihre einmaligen Qualitäten losgelöst von jeder kontextuellen Bedeutung preisgeben. Indem er diskontinuierliche Listen von Bildern ebenso wie scheinbar beziehungsvolle Aneinanderreihungen zeigt, erzeugt Film Ist. ein Phantasieobjekt: ein Lexikon nicht der Worte, sondern der Dinge, nicht von Begriffen, sondern von Mini-Ereignissen. Gleich einem Traumbuch läßt Film Ist. an ein Archiv denken, das Jorge Luis Borges zusammengestellt haben könnte oder an das Buch der Welt, welches Mallarmé schaffen wollte.

4. Das Archiv des Unbewußten

Irgendwann in nächster Zukunft werden die KünstlerInnen und WissenschafterInnen des 21. Jahrhunderts entdecken, dass die Filmarchive der Welt nicht bloß Lagerstätten für die Meisterwerke der Filmkunst sind, sondern ebenso Aladin-Höhlen unbekannter und zahlloser Schätze. Nur wenige Archive - darunter vornehmlich das Nederlands Filmmuseum, das Teile von Deutschs Film möglich gemacht hat - haben die Juwelen erkannt, die sie in ihren unbekannten, unbeachteten und oftmals anonymen Filmen besitzen. Diese Filme - besonders die Schul- und wissenschaftlichen Filme, die Deutsch in den Kapiteln 1-6 plündert - sind keine großartigen Kunstwerke, sondern vielmehr Bergwerke, die Momente unglaublicher Schönheit und Grazie, aber auch unbeschreiblichen Terror und unheimliche Enthüllungen enthalten. Deutsch hat sich durch Filme gearbeitet, deren beabsichtigte Zwecke oft geisttötende Dokumente der Instruktion oder Indoktrination hervorbringen, und dabei Momente des Staunens oder Horrors befreit, die die Zwecke der Demonstration übersteigen.
So scheinen die Kapitel, die sich auf Bewegung und Zeit, Materialität oder den Augenblick konzentrieren, alle aus äußerst zweckvollen Dokumenten unbewußte Enthüllungen des gegenständlichen Lebens und der alltäglichen Prozesse unsrer sichtbaren Welt herauszulösen. Abgeschnitten von jedem Kontext zittern diese Momente gleichsam nackt vor uns, und ihre Nacktheit verwundert uns durch ihre Reinheit oder ihre peinliche Entblößung. Die Kamera ist unerschütterlich in der Beobachtung von Anmut oder Gewalt, und diese Kapitel stellen eine Welt dar, in der Gewalt und Anmut sich in den alltäglichen körperlichen Prozessen zu verschlingen scheinen. So verschafft Deutschs Film einen Überblick darüber, was Walter Benjamin das Optisch-Unbewußte nannte, alle jene visuelle Ereignisse, die die menschliche Wahrnehmung registrieren mag, die aber nur die Kamera wirklich abbilden kann. Der Vorgang des Benennens filmischer Affinitäten wird zu einer visuellen Psychoanalyse des Mediums.
Der Prozeß des Exzerpierens und Verlangsamens, des Isolierens und Heraushebens, der in diesem Film stattfindet, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf jene Momente in Filmen, die wir normalerweise zugunsten einer beabsichtigten Botschaft, einer Idee oder einer faszinierenden Geschichte vernachlässigen. All die kleinen Zuckungen des Films, die Äquivalente der unwillkürlichen Tics und Fehleistungen, die ein Analytiker am Patient bemerkt, werden hier für alle zur Schau gestellt, um sich darauf zu konzentrieren und davon zu lernen. Das Betrachten wird zu einem Prozess bewußter Entdeckung dessen, was an den Rand unserer Aufmerksamkeit verbannt worden ist bzw. in die unbenutzten Weiten unserer Archive. Deutsch bringt nicht nur den vergessenen Moment oder Aspekt eines Films ans Licht, sondern Filme, die gänzlich vergessen oder schon entsorgt wurden.
Ich glaube, dass wir im 21. Jahrhundert endlich lernen werden, das bewegte Bild zu verstehen, indem wir das Staunen des frühen Publikums wiederentdecken, aber auch, indem wir ein breites Bezugsfeld gewinnen, in dem alle diese verschiedenen Gesten, Momente, Handlungen, Ausdrücke, rätselhafte Objekte und flackernde Erleuchtungen nicht ein wahres Lexikon bilden werden, sondern ein Spektrum von Möglichkeiten, eine Tabelle von Verbindungen, den Stoff einer neuen Kunstform der Collage und Montage. Die Surrealisten evozierten den Traumvorgang durch die zufällige Zusammenstellung von Gegenständen und Bildern, die eine neue Massenkultur ihnen als ihren Abfall anbot. Eine neue Wissenschaft könnte von diesem ständig wachsenden Aschehaufen weggeworfener Bilder und visueller Amnesie aufsteigen. Diese sich unaufhaltsam ausbreitende Überwucherung von Bildern blendet uns eher, als dass sie unser Sehen fördert. Deutschs Film ist jedoch mehr als nur die letzte Folge im surrealistischen Spiel. Er erinnert nicht so sehr an ein Wörterbuch als an ein reich illustriertes ABC für Kinder, eine Fibel, die uns das Sehen wieder beibringen wird, indem sie durch das Dickicht der Bildermassen schneidet, mit der Durchschlagskraft einer Vision, die wachsam dafür ist, was am Film noch lebendig ist und uns den Prozess der Wiederentdeckung lehrt, der - Film ist. (Fortsetzung folgt...)